Scott Rogers
Xeno-Canto (Songs to the Sun)
2021/23
Mit dem Sonnenaufgang beginnen viele tagaktive Vögel zu singen. Ich habe gehört, dass dies als „Chor der Morgendämmerung“ bezeichnet wird und es sich meines Wissens um ein weltweites Phänomen handelt. Die Lebensroutinen von Vögeln überschneiden sich zwar mit unserem Wachzustand, jedoch markieren Vögel den Tagesanbruch mit ihren Stimmen und nicht mit Glocken oder Weckern. In Europa wird diese Polyphonie von der Amsel oder dem Rotkehlchen angeführt. In Aotearoa hingegen ist es der Korimako oder der Tūī; in der Karibik könnte es der Grautyrann sein, in Südafrika das Kap-Rotkehlchen, in Kasachstan die Blaumeise, in Nepal der Rotsteißbülbül. In der Vogelwelt geht es beim „Aufstehen“ darum, Territorium zu markieren, Verwandtschaften zu erkennen, sich zu paaren, Raubtiere aufzuspüren oder Nahrung zu beschaffen – also um Dinge, die der menschlichen Ökonomie weit voraus sind. Für mich ist der Chor der Morgendämmerung ein Ausdruck des Lebens in einer sich entfaltenden Gleichzeitigkeit der Welt.
Xeno-Canto (Songs to the Sun) verlief in etwa so: In München ging wie erwartet am 27. November 2021 um 7:38 Uhr die Sonne auf. In diesem Moment fand das Musikprogramm Between II: on Robert Ashley im Kunstverein München statt, das am Vorabend um 18 Uhr begonnen hatte und 24 Stunden andauern sollte. Während der Veranstaltung wurden 24 unterschiedliche Audiokompositionen abgespielt, jeweils achtunddreißig Minuten nach jeder vollen Stunde. Jede Tonspur wurde als iPhone Alarm-Klingelton gespeichert und wurde automatisch ausgelöst, unabhängig davon, ob jemand anwesend war, um diesen zu hören. Die Kompositionen sind als akustische Einlagen zu verstehen und wurden mit Aufnahmen aus dem Open-Source-Archiv xeno-canto.org, einer Datenbank mit fast 750.000 Feldaufnahmen von Vogelgesängen. Ich durchstöberte diese Webseite und wählte Vogelstimmen aus, die Standorten zugeordnet waren, an denen der Tag im Verhältnis zur Uhrzeit in München anbrechen würde. So spielten beispielsweise um 18:38 Uhr in München die Aufnahmen aus Yukon/Alaska, Midway Island, Fidschi und Norfolk Island. Dieser Prozess führte zu einer Verdichtung, die die Vögel von Nord nach Süd miteinander in Beziehung setzte und die Dauer der Musikreihe Between durch nichtmenschliche Skalen und Rhythmen markierte.
Im Sinne von Open-Source wurden alle bei der Produktion des Werks verwendeten Aufnahmen in einer A4-Publikation aufgelistet. An den Originaldateien wurden nur minimale Änderungen vorgenommen. Ich betrachtete diese Klänge als Fundstücke, die ich auswählte aufgrund der einzigartigen Eigenschaften der Vögel, besonderer klanglicher Merkmale und der Andeutung klimatischer Effekte, Landschaften oder Atmosphären. Die Arbeit sollte eine behutsame Erinnerung sein – nicht nur an die Anwesenheit anderer Menschen in nah und fern, sondern auch an die Lebewesen, die unsere kollektiven, aber relativen Erfahrungen mit Licht, Klang und Zeit teilen.
(SR, März 2023; Übersetzung der Redaktion)