Archiv Newsletter No. 2

Juli 2018

Heute möchten wir Sie auf eine Ausstellung der Künstlerin Adrian Piper aufmerksam machen, deren archivarische Aufarbeitung wir erst kürzlich abgeschlossen haben. Erstmalig können wir neu digitalisierte Ausstellungsansichten aus den frühen 1990er Jahren zeigen, die der Fotograf Wilfried Petzi anfertigte. Im Unterschied zum direkten Erleben im Ausstellungsraum stützt sich die Archivarbeit auf Sekundärmaterial wie Fotografien, Kataloge, Dokumente und gedruckte Materialien, um vergangene Ausstellungen zu reflektieren und zu vermitteln. Dieses Material können wir nun mit Ihnen teilen.

Der damalige Direktor des Kunstverein München, Helmut Draxler, realisierte in Zusammenarbeit mit Hedwig Saxenhuber von 7. Oktober bis 22. November 1992 eine Retrospektive der Künstlerin Adrian Piper. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit Cornerhouse, Manchester und der Ikon Gallery, Birmingham. Zusätzlich fand am 6. November 1992 ein Vortrag Adrian Pipers mit dem Titel Xenophobia and the Indexical Present [1] im Kunstverein München statt.

Adrian Pipers Arbeiten blieben einem breiteren Publikum lange Zeit nahezu unbekannt. Erst die gravierenden Veränderungen der amerikanischen Kunstszene Ende der 1980er Jahre rund um den Crash des Kunstmarkts und die neuerliche Rezeption von konzeptuellen Ansätzen rückten die Arbeit Adrian Pipers zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. [2] Die Retrospektive dieser Künstlerin im Kunstverein München kann als eine ihrer ersten umfassenden Ausstellungen in Europa betrachtet werden.

Oftmals von ihren persönlichen Erfahrungen ausgehend, spricht Piper mit ihren Werken Themenbereiche wie Gender und Fremdenfeindlichkeit sowie moralphilosophische Themen an. Piper versucht mit ihren Werken eine Situation herzustellen, in der die Betrachter*innen unmittelbar reagieren können. Adrian Piper bezeichnet dies als 'Indexical Presence' [3], wie sie es auch in ihrem Vortrag anlässlich der Ausstellung erläuterte.

Die Retrospektive im Kunstverein München zeigte Adrian Pipers frühe Arbeiten von 1967 bis 1970, welche den Einfluss von Künstlern wie Sol LeWitt, Hans Haacke und Vito Acconci bezeugen und zumeist komplexe Untersuchungen von Raum und Zeit darstellen. Eines dieser Werke stellt die in der Ausstellung gezeigte Serie *Hypothesis Situation* (1969) dar, die im Treppensaal des 1.OG gezeigt wurden. Hier sind konzeptuelle Erkundungen mit Beobachtungen des eigenen Körpers in alltäglichen Situationen miteinander verbunden. Daran knüpfen auch die Performances Pipers der 1970er Jahre an, die in Alltagssituationen eingreifen und die Frage der eigenen Identität zuspitzen. Im Kunstverein München wurden Fotografien und Collagen präsentiert, welche diese Performances dokumentieren.[4]

Im Vordergrund der Ausstellung im Kunstverein München standen Foto-Text-Collagen, Zeichnungen und Videoinstallationen Pipers aus den 1980er und frühen 1990er Jahren, welche Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und die Natur des Selbst thematisieren. Zwei der zentralen ausgestellten Arbeiten waren *Cornered* (1989) und *Vote/Emote* (1990), welche Geschlechterstereotypen und ethnische Stereotypen aufdecken und infrage stellen. Die Besucher*innen wurden hier direkt mit ihren eigenen Verhaltensweisen konfrontiert und aufgefordert, ihre persönlichen Empfindungen in ausgelegte Bücher niederzuschreiben.

In einem Künstlerinnenstatement, das Adrian Piper zur Ausstellung verfasste und das sich in unserem Archiv befindet, schreibt sie: 'Ich bin ein fremder Eindringling, der unsichtbare Spion in perfekter Verkleidung, der über die Barrikaden schlüpfte in einem unbewachten Augenblick. Aus mir spricht die Realität einer erfolgreichen Infiltrierung, die das Ideal der Assimilation lächerlich macht'. [5]

Eine weitere gezeigte Werkgruppe stellt die Serie *Vanilla Nightmares* (1986–1992) dar. Diese war im heutigen Kinoraum zu sehen. Auf Seiten der New York Times zeichnete Piper mit Kreide, um Ängste und Fantasien der Betrachter*innen zu imaginieren.

Obwohl diese Interessensschwerpunkte vordergründig die Ausstellung zu dominieren scheinen, zeigt sich in den komplexen und vielschichtigen Arbeiten dieser Retrospektive, dass Pipers Werk grundlegend konzeptuell angelegt ist. Piper gelang es, gesellschaftliche und politische Themen zu kommunizieren, ohne die üblichen Abwehrreaktionen hervorzurufen und den Fokus auf das Kunstwerk anstelle des Individuums zu legen.

Im Kontext der rassistischen Gewalttaten von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, sowie im Kontext eines wiedervereinten Europas, geprägt von Debatten über nationale Identitäten und einer restriktiven Integrationspolitik, erhielt die Retrospektive von Adrian Piper im Kunstverein München 1992 eine große Brisanz. [6] Auch heutzutage scheinen die in der Ausstellung behandelten Fragestellungen und der von Piper angesprochene Alltagsrassismus wieder von beklemmender Aktualität.

Neben dem Erhalt des Käthe-Kollwitz-Preises 2018 widmete das MoMA in New York Adrian Piper kürzlich eine der größten bisher ausgerichteten Retrospektiven des Hauses (Adrian Piper: A Synthesis of Intuitions, 1965–2016, 31. März bis 22. Juli 2018).

Die Aufarbeitung der Retrospektive der Künstlerin Adrian Piper ist ein wichtiger Schritt der Archivarbeit des Kunstverein München sowie der Ausstellungsgeschichte. Über weitere wichtige Projekte werden wir Sie bereits im August informieren. Bis dahin wünschen wir einen entspannten Sommer.

Text: Theresa Bauernfeind
Recherche: Theresa Bauernfeind, Christina Maria Ruederer
Übersetzung und Lektorat: Theresa Bauernfeind, Post Brothers, Christina Maria Ruederer

Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie uns gerne über archiv@kunstverein-muenchen.de.

[1] deutsch: Fremdenfeindlichkeit und die indexikalische Gegenwart, vgl. Dokument, Martina Fuchs Archiv des Kunstverein München e.V., 1992.
[2] Vgl. Pressetext der Ausstellung Adrian Piper, Kunstverein München e.V., Martina Fuchs Archiv des Kunstverein München e.V., 1992.
[3] Vgl. Pressetext und Plakat der Ausstellung Adrian Piper, Kunstverein München e.V., Martina Fuchs Archiv des Kunstverein München e.V.,1992.
[4] Vgl. Pressetext der Ausstellung Adrian Piper, Kunstverein München e.V., Martina Fuchs Archiv des Kunstverein e.V.,1992.
[5] Vgl. Künstlerstatement von Adrian Piper in deutscher Sprache, Martina Fuchs Archiv des Kunstverein München e.V., 1992.
[6] Vgl. auch Brief von Hedwig Saxenhuber, 09. Juli 1992, Martina Fuchs Archiv des Kunstverein München e.V., 1992.

Abb.:

  1. Plakat zur Ausstellung: Adrian Piper, Retrospektive, 1992. Courtesy Kunstverein München e.V.
  2. Installationsansicht: Adrian Piper, Vote/Emote, 1990 in: Retrospektive, 1992, Kunstverein München. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Wilfried Petzi.
  3. Adrian Piper, Künstlerinnenstatement, 1992. Courtesy Kunstverein München e.V.
0
1
2
pageview counter pixel