Archiv Newsletter No. 9
November 2021
Während im Archivraum Material aus der Geschichte des Kunstvereins zu jeder neuen Ausstellung in Resonanz tritt, wächst im Hintergrund die Chronik auf der Webseite. Wie es sich für ein Archiv gehört, gibt es standesgemäß klaffende Lücken, aber inzwischen auch allerlei Texte, Fotos, Presseartikel, Briefe und anderes Material, das sich für einen Ritt durch (fast) 200 Jahre anbietet, zu Vermutungen und Schlüssen anregt und noch die letzten Ansätze linearer Geschichtsschreibung aus den Newslettern verwirrt.
Seit der damals teils euphorisch erwarteten Jahrtausendwende hat sich das digital verfügbare Material vervielfacht, weshalb der Rückblick ab dann innerhalb der Grenzen der Darstellbarkeit „vollständiger“ wird. Die Überlieferung ist insgesamt aber sehr disparat: Aus vielen Phasen existieren nur ein paar Hinweise auf Ausstellungstitel, die neugierig machen, während manch schnell begriffene Veranstaltung bis zur letzten Schrauben-Rechnung fast überdokumentiert ist.
Ein Blick in die rumorenden Untiefen der Vergangenheit fördert neben Erwartbarem auch Überraschendes zutage: Die Fussball-Ausstellung zum FC Bayern München (1973), die bereits im Hintergrund des Frauentreffens zu sehen war; eine Art Vorgängerin zu Andrea Frasers Gesellschaft des Geschmacks findet sich 1972 in der Mitglieder-Ausstellung "Dieses Bild ist mir wichtig"; es kommen ständig weitere Eindrücke hinzu, z.B. zum offiziellen Beitrag des Kunstvereins zur Olympiade 1972, aber auch die erst langsam in den Blick genommene Nachkriegszeit, eine Fotoausstellung, Material aus dem 19.Jahrhundert, uvm. ...
Mitten im eher formalisierten Betrieb der Spätachtziger taucht auf einmal der minimal club mit seinen Naturidentischen Stoffe(n) (1989) auf – ein neues Genre aus Gruppenausstellung, Musik-Theater und einer Zeitschrift, den A.N.Y.P. (Anti New York Pläne). Was als Vorhut der gruppenorientierten frühen Neunziger anmutet, war keine Idee des Kunstvereins – Sabeth Buchmann, Elfe Brandenburger, Stephan Geene und Manuela Wittmann nervten die künstlerische Leitung einfach so lang, bis sie dort machen durften, was sie wollten.
Nach der diesjährigen Summer School The Stories We Tell Ourselves macht es auch großen Spaß, sich das Material von Group Affinity (2011) oder der 1994 in Parodie der gleichnamigen Veranstaltung in Salzburg abgehaltenen Sommerakademie anzuschauen – damals war das WWW noch im Entwicklungsstadium. Sie wurde statt einer Einzelausstellung von Stephan Dillemuth und Helmut Draxler konzipiert, und sollte „für die Kunstakademie keine allzu systemstabilisierenden Effekte“ [1] haben. Eindrücke von Leuten, die sich in diskursiven Veranstaltungen aufhalten oder zusammen rumhängend produzieren, sind in der Kunst mittlerweile ein gewohntes Bild – die „Freie Akademie auf Zeit“ war ein starker Kontrast sowohl zur Repräsentativität der 80er im Kunstverein München sowie zur undurchlässigen Meisterklassen-Passivität der Lehre an den Akademien (vgl. Archiv Newsletter 3.2 ). Die „Aufeinanderfolge von Ausstellungseröffnung und anschließendem Vor-sich-hindümpeln“ [2] wurde im Kunstverein damals nur selten variiert.
Nun war vier Wochen lang in allen Räumen etwas anderes los, „andere Menschen und Einflüsse“ [3], meist in Zusammenarbeit von Gästen und Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Kontexten, die wieder andere reinholten: Einerseits das Umfeld des Projektraums Friesenwall 120, in dem viele der Sommerakademie-Formate entstanden waren, andererseits Einladungen von Helmut Draxler wie das Zeitschriftenkolletiv Die BEUTE, Doug Ashford oder Joseph Vogl.
Unten ging es mit der noch von Heimo Zobernig gestalteten Barsituation los, die jetzt von explizit aufgewerteter Hobbykunst und einem Dreipfeil-Banner geschmückt wurde. Eine Kreidetafel kündigte das abwechslungsreiche Wochenprogramm an. Im Zwischengeschoss folgte u.a. eine Installation von Cathy Skene und Christoph Schäfer, oben im ersten Raum begrüßte die Besucher*innen ein Arbeits-Terminal von The Thing und „Die Galerie” von Münchner Akademie-Studierenden, in der alle paar Tage eine Eröffnung mit bisher Unbekannten stattfand. [4]
Durch einen roten Vorhang gelangten die Gäste in den bühnenartigen Hauptraum (u.a. Freie Klasse Berlin), der von einer riesigen Virus-Skulptur von Düsseldorfer Studierenden aus dem Orientierungsbereich der dortigen Akademie bewohnt war. Sie wurde ebenfalls von Kunst eingenommen, veränderte sich ständig und breitete sich in die anderen Räume hinein aus oder wanderte wieder zurück. Zuvor wurde „eine Kleinanzeige in der SZ geschaltet (‚Wer will im Kunstverein ausstellen‘) und auf diese Weise wurden die Studienanfänger*innen in Sachen Kunst auch mit Hobbykünstler*innen konfrontiert, welche die Anzeige gelesen hatten und endlich einmal im Kunstverein ausstellen wollten.“ [5]
Auf ähnliche Weise konnte der heutige Archivraum nach einer Idee von Renée Green einfach angemietet werden, wie schon im letzten Newsletter erwähnt. Ihre zuerst in der Pat Hearn Gallery in New York entwickelte Methode sollte analog zur Ausstellungssituation „in das Sommerakademie-Netzwerk, das sich ja aus eigenem und Friesenwall-120-Netzwerk speiste, etwas Unvorhersehbares hinzufügen. D.h. dadurch auch diese ‚Netzwerk‘-Idee konterkarieren.“ [6] Im einzigen statischen Raum, dem sogenannten Kopfsaal, „gab es immer etwas zu tun“ [7], denn das an Wand und Boden angebrachte begehbare Magazin der Gruppe Dank wollte über eine Schaukel rezipiert werden.
Überall im Haus hingen und standen Kunstwerke, z.B. ein angeblich 1985 während des Umbaus (nämlich im Durchbruch über dem Hauptraum) gefundener Giacometti, es gab Fußabdrücke an den Wänden, betrunkene Inschriften im Foyer und ein paar Wandzeichnungen von Stephan Dillemuth, z.B. nach einem alten Stich zur Berliner Kunstakademie, in dem die „Vorstellung eines Eleven vor lauter alten Säcken in Perücken“ dargestellt wird: „Er wird reingeschoben in den Kreis altehrwürdiger erlauchter Wissenschaftler.“ [8]
Das Ganze veränderte sich ständig und wenig langweilig war auch das Programm, das hier nur angedeutet werden kann: Ein Workshop von Artfan (Ariane Müller, Linda Bilda, Martin Ebner und C.G. Stumpf) untersuchte die letztlich gravierenden Strukturunterschiede von sozialistischen und faschistischen Liedern und Filmen in ihren Konzeptionen des neuen Menschen – gegen die üblichen argumentativen Parallelisierungen. Auf der einen Seite wurden z.B. populäre Experimente mit 12-Ton-Technik gefunden, auf der anderen die Vermittlung der Zukunft durch Marschrhythmen. Das Material stammte entsprechend der prä-Internet-Ära aus den umfassenden physischen Beständen des Friesenwall-120-Archivs. „Und damit es nicht zu fad wird, wurde zwischendurch gesungen“ [9], Karaoke-Videos mit mittlerweile diskreditierten Arbeiter*innenliedern produziert und das Ganze abends im Foyer bei rauschenden Festen aufgeführt.
Die Gruppe Four Walls aus Brooklyn (Mike Ballou, Claire Pentecost und Adam Simon) berichtete von ihrer Jobs-Show, bei der die Teilnehmer*innen für jedes ihrer Kunstwerke jeweils eine Arbeit aus ihrer Job-Produktion mitbringen mussten. Für die Veranstaltung im Kunstverein wurde ein Angestellter des Arbeitsamtes eingeladen, bei dessen Ausführungen sich bereits der wenige Jahre später durchgesetzte Abbau des hiesigen Sozialstaats und die daraus folgende Verlagerung auf Eigenverantwortung abzeichnete.
Der „Fahrende Garten“ von Anna Gudjonsdottir, Florian Hüttner, Till Krause und Martin Schüttpelz organisierte sternförmig vom Kunstverein startende Ausflüge (u.a. Neuperlach, Schleißheim, Nymphenburg). Von diesen wurde auch Material wieder zurückgebracht, das sich in wechselnden Installationen in den Räumen niederschlug. Dafür wurden im Lauf der vier Wochen immer mehr Leute involviert.
Die inhaltliche Ausrichtung und der weitgehende Verzicht auf didaktische Vermittlung unterschiedlichster Ansätze waren bewusste Entscheidungen, denen es nicht darum ging, „schulterklopfend, augenzwinkernd und wohlwollend“ [10] durchgewunken zu werden. Die „gnadenlose“ Sprache [11], die Stichworte wie „lebenslanges Lernen“ oder die mittlerweile dogmatische „direkte Aufforderung zum voneinander Lernen“ versprühen, um dann häufig doch wieder das Erwerben „unternehmerischer Kompetenzen“ [12] zum Ziel zu haben, könnte kaum stärker mit dem nicht-repräsentativen Ansatz der Sommerakademie kontrastieren.
Um die Webseite weiter wachsen zu lassen, freuen wir uns sehr über zur Verfügung gestelltes Material zu vergangenen Ausstellungen und Veranstaltungen – Fotos, Flyer, Artikel oder Filme. Schreiben Sie uns gerne an archiv@kunstverein-muenchen.de.
Text: Adrian Djukic
Lekotorat: Gloria Hasnay
Fußnoten:
[1] Gespräch mit Stephan Dillemuth, 19.04.2021.[2]
[2] Ebd.
[3] Jochen Becker: „Lernprozesse mit fröhlichem Ausgang. Stephan Dillemuth über die »Sommerakademie München – eine Freie Akademie auf Zeit« im Kunstverein München vom 31.5. - 26.6.1994“, in: Kunstforum Nr. 128, S. 299–307, hier: S. 306.
[4] Über die Art des Beitrags der Münchner Studierenden wurde noch im Nachgang diskutiert – mit Einschätzungen zwischen „selbstverwalteten Strukturen“ bis zum Vorwurf des „Infokonsumismus“. Siehe auch: Thomas Helbig, Bernhard Helzel, Ursula Rogg, Stefan Scheßl, Michael Schultze: „save your ears. Eine notwendige Vervollständigung zum Interview mit Stephan Dillemuth im Kunstforum 128“, in: Kunstforum Nr. 130, S. 467–468.
[5] Gespräch mit Stephan Dillemuth, 06.11.2021.
[6] Ebd.
[7] Gespräch mit Stephan Dillemuth, 19.04.2021.
[8] Ebd.
[9] Gespräch mit Ariane Müller, 27.10.2021.
[10] „Friesenwall 120 - Interview mit Stephan Dillemuth“ in: ARTIS Nr. 9, S. 27–30, hier: S. 28.
[11] Helmut Draxler: Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, Wien/Berlin 2017. 2., um einen Anhang ergänzte Auflage, S. 8. Vgl. S. 94: „Anstelle einer klaren Fragestellung (der Antagonismus) und einer Problemlösung (die Vermittlung) ergibt sich eine spezifische soziale und kulturelle Konstellation, in der die Vermittlung sich als besondere soziale Praxis und als Teil jener gesellschaftlichen Verhältnisse aufweist, gegen die sie anzugehen scheint. Innerhalb dieser Konstellation verschwindet die Gewalt gerade nicht; sie transformiert sich vielmehr hin auf zunehmend undurchsichtige Formen und Erscheinungsweisen.“
[12] Sandra Schön und Martin Ebner: „Ziele von Makerspaces. Didaktische Perspektiven“, in: Viktoria Heinzel, Tobias Seidl und Richard Stang (Hrsgg.): Lernwelt Makerspace. Perspektiven im öffentlichen und wissenschaftlichen Kontext, Berlin, Boston 2020, S. 33–47, hier: S. 36 und 44.
Abbildungsverzeichnis:
[1] Arbeitsgemeinschaft F.C. Bayern der Klasse K.F. Dahmen: Fussball. Kunstverein München, 1973. Courtesy Kunstverein München e.V.
[2] minimal club: Die ANTI NEW YORK PLÄNE. Ausgabe 1: Naturidentische Stoffe . Kunstverein München, 1989. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Siegfried Wämser.
[3] Fundstück aus dem Archiv (Bar der Sommerakademie, 1994)
[4] Fundstück aus dem Archiv (Sommerakademie, 1994)
[5] Fundstück aus dem Archiv (Begehbares Magazin, 1994)
[6] Fundstück aus dem Archiv (Karaoke Video, 1994)
[7] Käthe Kruse + Nikolaus Unterhöhlen in: Naturidentische Stoffe. Kunstverein München, 1989. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Hans_Georg Bieberstein
[8] Fundstück aus dem Archiv (Sommerakademie, 1994)
[9] Fundstück aus dem Archiv (Sommerakademie, 1994)
[10] Fundstück aus dem Archiv (Sommerakademie, 1994)