Archiv Newsletter No. 8.4

Juli 2021

Der Klassenbegriff im Kunstverein München
Teil 4: Von der Kunst als Waffe zum Saxophon als Waffe gegen Kunst - Frühe 70er und 90er

Im vierten und letzten Teil der Newsletter-Reihe zum Klassenbegriff im Kunstverein München schauen wir nochmal schlaglichtartig auf zwei Phasen, die in der Hinsicht auffällig waren: die frühen 70er und die frühen 90er Jahre. Zwar gab es auch später immer wieder Ausstellungen und Veranstaltungen zu „Klasse“ als Thema, aber in beiden Zeiträumen war diese Auseinandersetzung zentral und wurde fast durchgängig auch auf die Institution selbst bezogen. Beide Herangehensweisen haben Ähnlichkeiten, beispielsweise in ihrer Mischung aus Unvereinbarkeit (einmal subjektkritisch gewendet) und Humor.

Nach den bereits ausführlich dokumentierten Streitigkeiten um die Ausstellung Verändert due Welt! Poesie muss von allen gemacht werden! (1970)[1] , die sich zwischen und innerhalb von Kultusministerium, Vorstand und der damaligen Belegschaft um den Direktor Reiner Kallhardt abspielten, übernahm dessen Assistent Haimo Liebich die künstlerische Leitung für die nächsten Jahre. Zusammen mit den neu eingeführten, kollektiver agierenden sogenannten „Arbeitsgruppen“ wird ein Programm entwickelt, das inhaltlich an diese Ausstellung anschließt. Diese hatte als lokale Aktualisierung der dort gezeigten avantgardistischen Kunstströmungen Studierende der Kunstakademie eingeladen, von ihren (im kunsthistorischen Institut der Universität begonnenen) Protesten u.a. gegen die Weiterbeschäftigung von NS-Personal in der Lehre zu berichten. Sie wurde vorzeitig geschlossen und daraufhin dem Kunstverein staatliche Zuwendungen entzogen, da durch sie „Bestrebungen des Terrors und des gewaltsamen Umsturzes mit Steuermitteln, die zur Kunstpflege bestimmt sind“ [2] subventioniert würden.

Für das 150. Jubiläum 1974 [3] werden das erste Mal ausführlich die frühen Dokumente des Kunstvereins gesichtet, um die Frage zu beantworten, was diese Einrichtung bisher eigentlich für wen ausgemacht hatte. Die Recherchen werden im Eingangsbereich und einer Publikation präsentiert und kommen zu dem Schluss, dass es sich neben ihren frühbürgerlichen, emanzipatorischen Ansprüchen die längste Zeit um eine Institution für Wenige handelt, die sich stark „nach unten“ abgrenzt und an der eigenen Repräsentation als bürgerliche Mitte interessiert ist. Die damaligen Arbeitsgruppen ziehen daraus die Konsequenz, dass es nun an der Zeit sein könnte, es genau andersherum zu machen und die Ausrichtung des Kunstvereins umzudeuten. Die durch das Programm erzeugte Angst, dass nicht mehr „die Interessen a l l e r Mitglieder und des g a n z e n Kunstvereins“ [4] vertreten werden, wird bewusst in Kauf genommen. Statt durch Sponsoring erzeugte Aufgabenstellungen zu erfüllen, sollen unterschiedliche Gruppen in der Stadt angesprochen werden. [5] „Ziel des Kunstvereins München ist nicht mehr die Darbietung von Objekten aus einem eng begrenzten Raum zum privaten Konsum, sondern die Information über alle im Bereich der bildenden Künste auftretenden Erscheinungen in ihrem jeweiligen gesellschaftspolitischen Zusammenhang, mit der Aufgabe, auch Gruppen, die bisher durch die spezielle Art der Auswahl und Darbietung der Objekte ausgeschlossen wurden, in den Informations- und Erfahrungskreis zu integrieren. Man kann das eine Umkehrung der Ziele des KV nennen.“ [6] Immer wieder kommt es in der „Aktivisteninstitution“ [7] zu Streitigkeiten mit dem Kultusministerium um die nun antibürgerliche Programmatik und deren Förderungswürdigkeit – neben Ausstellungen über den Klassenkampf an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten [8] und den im Kunstverein stattfindenden Aktionen wird auch das Personal misstrauisch beäugt. Den teilweise schon im umstrittenen Aktionsraum 1 tätigen neuen Vorstandsmitgliedern wird eine staatsfeindliche Agenda zugetraut. Gelder werden infrage gestellt mit Verweis auf die scheinbar rein politischen Motive des Vereins. „Das war eine großartige Situation, die man sich nur gemeinsam schaffen konnte“, berichtet die Galeristin Barbara Gross über diese Jahre und den Einsatz abseits von Professionen, „denn damals waren wir ja noch nicht professionell.“ [9]

Die 1971 in Zusammenarbeit mit der DKP organisierte Ausstellung Kunst als Waffe. Die ASSO und die revolutionäre Kunst der 20er Jahre zeigt genau jene antifaschistischen Kunstströmungen, die im Münchner Kunstverein zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht stattfanden. Auch kuratorisch wird versucht, eine Art Gegenteil der Vereinsgeschichte zu entwerfen. Der Kunsthistoriker Richard Hiepe stellt die von Arbeiter*innen und Künstler*innen geprägte Organisation ARBKD, die 1928 gegründet und 1933 verboten wurde, als „Alternative der sozialen Revolution zu allen bürgerlichen Kunstvorstellungen“ [10] vor.

Neben solchen konsequenten Ausstellungen, die ebenfalls zur Streichung von Geldern führen, verwandelt sich die Institution in dieser Zeit auch in eine Art Forum. Die Entwicklung des Kunstvereins hin zu einem Ort, an dem sich politisch linke Bewegungen sammeln, sorgt häufig für Unmut. „Es ist alles unkontrolliert, was in den Räumen des KVM ausgehandelt wird. Jedenfalls für Übernachtungen Halbwahnsinniger sind die Räume nie gedacht gewesen.“ [11] Das Gebäude wird anderweitig genutzt, durch viele unterschiedliche Gruppierungen, beispielsweise als Diskussions- und Versammlungsort im Vorfeld von Protesten. „Die Demonstrationen der Frauenbewegung auf dem Odeonsplatz wurden hier im Kunstverein organisiert, vorbereitet, sie haben sich hier verkleidet, haben sich hier geschminkt und sind von hier raus auf den Odeonsplatz und haben Kardinal Döpfner und die Kirche angegriffen und provoziert und sozusagen den frauenpolitischen Diskurs in die Öffentlichkeit getragen. Der erste deutsche Frauenkongress hat hier im Kunstverein stattgefunden.“ Der Kunstverein war hier „nicht Motor, aber Plattform“ [12] , berichtet der damalige Direktor Haimo Liebich im Gespräch über die Zeit. Beim Frauentreffen der deutschen Frauenmanzipationsgruppen (1973) trafen sich hier mehrere hundert Teilnehmer*innen aus zehn deutschen Städten, um sich über mögliche gemeinsame Strategien zu verständigen. Mit dem darauffolgenden Geschäftsführer Hans J. Grollmann veranstaltet der Kunstverein u.a. die Dokumentationsausstellung 'Gastarbeiter' - zur Lage ausländische Arbeiter in der BRD (1975), bei der griechische Arbeiter*innen mit Münchner Akademiestudierenden die Ausbeutung durch deutsche Betriebe, die damit verbundene katastrophale Wohnsituation und „Deutschland als eine Klassengesellschaft“ [13] kritisieren. Die Gefahr, dass diese neuen Gegenstandsbereiche „in bürgerliche Gleise einfahren“ [14] oder sich „in ein Objekt bourgeoiser Gelehrsamkeit“ [15] verwandeln könnten, wird dabei erfolgreich durch viele formale Experimente umschifft, beispielsweise die Einladung eines Kindertheaters zum „Solidaritätsproblem“ oder die Tatsache, dass die Ausstellung anschließend wieder aus der Institution hinaus in den Stadtraum wandert – Teile davon werden in einer griechischen Kneipe gezeigt.

„Aber am Münchner Hofgarten muss man nicht bezahlen." [16]

Wie ändert sich der Klassenbegriff im Kunstverein bis in die 90er? Einerseits laden auf Kunst bezogene Hoffnungen nicht mehr uneingeschränkt zum Träumen ein. Andererseits ist auch der Begriff der Arbeit nicht mehr positiv aufgeladen. Es wurde langsam klar, „dass ästhetische Motive wie Kreativität, Spontaneität, Originalität nicht mehr einen privilegierten Bereich der Freiheit jenseits reproduktiver Zwänge anzeigen, sondern selbst zu einer derart wichtigen Produktivkraft des kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden sind, dass sie sich in entscheidende gesellschaftliche Forderungen verkehrt haben, die für den Einzelnen eher ein Mehr an Zwang denn an Freiheit bedeuten.“ [17] Als 1992 Hedwig Saxenhuber, Helmut Draxler und ihr Umfeld ihre Aktivitäten am Kunstverein aufnehmen, bilden die rassistischen Pogrome in Hoyerswerda, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Mölln eine neu aufgeheizte nationalistische Ausgangssituation, auf die mit einem betont antirassistischen Programm reagiert wird, u.a. durch die bereits besprochene erste „klassische“ Ausstellung des Programms, Xenophobia and the Indexical Present von Adrian Piper, deren Texte und darin entwickelter Klassenbegriff des Unvereinbaren sehr gut zur Richtung der kommenden Jahre passen: „Wenn Ihr Interesse dem reinen Kunstgenuss gilt, dann gehen unsere Interessen auseinander. Wenn es nur dem Kategorisieren gilt, dann widersprechen unsere Interessen einander. Wenn es der Entspannung, dem Suchen neuer Investitionsquellen oder der Erbauung gilt, dann sind unsere Interessen unvereinbar.“ [18] Das Programm beschränkt sich allerdings nicht auf Kunst, sondern sucht die Zusammenarbeit mit Autonomen, antirassistischen Gruppen, losen Gemeinschaften oder Stadtteil-Initiativen [19], mit denen ein Großteil der Inhalte und Aktionen entwickelt wird.

Nicht selten sind die dort entstandenen Zusammenhänge (etwa das Zeitschriften-Kollektiv Hilfe [20]) noch jahrelang aktiv geblieben. Überschneidungen gibt es hierbei auch zu den szeneübergreifenden Wohlfahrtsausschüssen, in denen sich verschiedene Akteur*innen wie Absolute Beginner, Katja Diefenbach, Diedrich Diederichsen, Die Goldenen Zitronen oder Blumfeld engagieren

Wie die Arbeitsgruppen der frühen 70er Jahre sehen sie sich die Geschichte, Ausrichtung und Entwicklung des Kunstvereins ebenfalls sehr genau an und reagieren aus aktualisierter Perspektive darauf. Die grundlegende Veränderung zwischen den radikalen Ideen der 70er und ihrer institutionellen Gegenwart erkennen sie u.a. in der gestiegenen Professionalisierung. In ihren Recherchen machen sie dies besonders anschaulich durch die Analyse eines erneuten Umbaus des Gebäudes Mitte der 80er. Die archivarische Institutionsanalyse im Rahmen der Gesellschaft des Geschmacks von Andrea Fraser (1993) diagnostiziert nun zwar eine immerhin teilweise Ausdifferenzierung der Mitgliedschaft des Vereins – ebenfalls aber den inzwischen entstandenen Wunsch, sich auf einem internationalen Markt der Institutionen messen und behaupten zu können.

Die von vielen als muffig empfundene und mit lokaler Bedeutungslosigkeit assoziierte Ausstellungsfläche wird 1985 freigelegt: der angeblich stark riechende Teppich und die mittlerweile schmutzige Zwischendecke aus Stahlseil und Plastik-Plane werden entfernt und so die repräsentativen, pseudo-klassizistischen Elemente der Räume [21] betont [22]. Die seit den 70ern angepeilte Funktion eines gesellschaftlichen Austauschs wird in Richtung White Cube verschoben – bereit, mit wichtigen Namen gefüllt zu werden, um beim Kräftemessen der Institutionen nicht außen vor zu bleiben. Im Zuge dessen wird allerdings auch die „Funktion gesellschaftlicher Legitimierung sozialer Unterschiede erfüllt (…).“ [23] Dieser Mechanismus funktioniert laut Andrea Fraser, „weil die in Kunstobjekten vergegenständlichten Kompetenzen und Dispositionen ebenso sehr die Kultur der professionellen Teilnehmer am Kunstbetrieb als einer Klasse zum Ausdruck bringen wie die Kultur der Kunstsammler. Und die Kunst-Professionellen haben ein noch größeres Interesse an der Reproduktion ihrer Werte.“ [24]

Der Kunstverein der frühen 90er hat sich zu dieser gestiegenen Professionalität in allen Bereichen positioniert, was sich z.B. im weitgehenden Verzicht auf bereits ökonomisch etablierte Namen im Programm oder eine Corporate Identity im Publikations-Design widerspiegelt. Dies wird zum Beispiel auch sehr deutlich durch die anti-hierarchische Nennung des involvierten Personals im Impressum und beim teilweise gänzlichen Verzicht auf Autor*innen-Namen in begleitenden Publikationen. Neben einer durchgängigen Problematisierung des mit der „Klasse“ verbunden Begriffs der „Arbeit“ gibt es hier eher Arbeit am Begriff und heute noch zeitgemäße Polemiken gegen zu große Hoffnungen aufs „Ich“ und alles „was als Person gilt.“ [25]

Vieles, was damals in emanzipatorisch verstandener Reaktion auf die zunehmend affirmative Professionalisierung der Institution angegangen wurde, erscheint heute, unter veränderten Voraussetzungen, nach Aussagen der damals Involvierten fast schon als Zwang (bei diesen „Schlagworten“ sei „stets Vorsicht geboten“ [26]). Zu jener Zeit stellten diese Anstrengungen jedoch nicht den Weg des geringsten Widerstands dar, sondern waren getragen von einem Glauben an das Potenzial zur produktiven Veränderbarkeit der Institution, wenn nicht gar des weiter gefassten Kunstbetriebs – und es hat offensichtlich auch noch Spaß gemacht.

Bezüglich der Adressierung des Publikums wurde weder behauptet, dass jede Öffentlichkeit gleichermaßen durch das Programm angesprochen würde, noch nur mit ausschließenden Spezialsprachen hantiert. Viele der damals diagnostizierten Probleme haben sich über die Zeit bestimmt verschärft, weshalb es sich sicher lohnt, auf damals bereits formulierte, wenig plumpe Ideen erneut einzugehen.

Analysen von kolonialistischen Grundannahmen in Film und Theorie (vor allem Trinh T. Minh-ha, 1995), in Gegenwartskunst und Design (z.B. Christian Phillip Müller: Vergessene Zukunft, 1992), einflussreiche feministische Ausstellungen (Oh Boy, it's a Girl, 1994 oder Game GRRRL, 1994), bewusst nicht professionalisierte Gruppen-Projekte wie Die Utopie des Designs (1994), das soziale Ansprüche und Wirklichkeiten von Olympiazentrum bis Neuperlach Süd untersuchte, die von Stephan Dillemuth initiierte kollektive Wissensproduktion ohne verkrampften Zwang zur Wissenschaftskommunikation der Sommerakademie (1994) nehmen vieles vorweg, was heute in der Kunst – dann allerdings oft mit verbissenem Ernst – angetroffen werden kann. Die „Umwegrentabilität für die Kunstwelt“ soll vermieden werden und die angesprochene Öffentlichkeit ist „nicht mehr das universalistische Kunstpublikum, das sich jedes Thema ästhetisierend einverleibt, sondern die spezifischen Szenen und Gruppen der Stadt.“ [27] Viele Projekte gehen auch direkt auf Stichworte ein, die der Kunstverein als spezialisiertes Milieu liefert, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem bürgerlich-familiären Modell des individuellen Wohnens in Die Arena des Privaten (1993), deren Ergebnisse ebenfalls aktuell klingen: "Schon der gilt heute für das Gute und gegen das Böse sei. Der Zerfall des politischen Bewusstseins hat im Gefolge das hartnäckige Querulantentum, die Prozeßsucht und die Kleinstaaterei." [28]

Gleichzeitig und im Lauf der folgenden vier Jahre finden im Kunstverein auch wieder verstärkt Dinge statt, die nichts mit Kunst (oder Eigen-Repräsentation) zu tun haben. „Mitten in der Stadt, inmitten der konkreten Formen der täglichen Langeweile“ [29] werden die Räume, ähnlich wie in den 70ern, kunstfernen Zusammenhängen zur Verfügung gestellt oder für ein Tischtennisturnier angenehm profaniert – in Renée Greens Beitrag zur Sommerakademie wird der heutige Archivraum einfach für jeden beliebigen Zweck vermietet, was auch mal zur Übungsstunde am Saxophon genutzt wird. Dem von der Tagespresse angesichts der kontingent angelegten Programmatik häufig erhobenen Vorwurf der Beliebigkeit muss aus heutiger Perspektive mit dem Hinweis auf die durchaus hart geführten Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Positionierungen innerhalb derselben begegnet werden, deren Ziel es war, nicht vorschnell unterkomplexe Lösungen zu erarbeiten, sondern sich vielmehr in Ambiguitäts-Toleranz zu üben. Auch die stets sehr präsente Theorie verströmt offenbar wenig Seminar-Atmosphäre, liegt „jenseits eines akademischen Spezialistentums“ [30] und stellt nach Erzählungen damals Involvierter auch kein kommodifiziertes Beiprodukt der Kunst dar. Stattdessen entwickelt sich eine kontinuierliche Theorie-Aktivität, mit der in durchaus unterhaltsamer Weise über Begrifflichkeiten gestritten werden kann: „Die Utopie des Cyborg-Kommunismus wendet sich exklusiv an die dünne Schicht der technowissenschaftlichen Intelligenz und vernachlässigt die fortbestehende Realität von Ausbeutung und Arbeitsstumpfsinn.“ [31] bzw. zu Arbeit allgemein: „arbeiten-zu-müssen (…) kommt immer wieder auf den punkt zurück, nicht nur geld verdienen zu müssen – irgendwie –, sondern auch die eigene Organisation oder disziplinierung darauf abzustellen, etwas klarzukriegen, aufzuräumen, nicht zurückzufallen, abzusacken in die nicht geleisteten aufgaben oder pläne.“ [32]

Das Programm polarisierte stark – „aber bei unseren GegnerInnen hatten wir ohnehin bereits verspielt.“ [33] Der Umgang mit den Räumen entsprach der Tendenz, die sozialen Erwartungen der Institution zu verunklaren. Worin bestand die unfade Unbestimmtheit, in die der Kunstverein zu der Zeit überführt wurde? Sie unterscheidet sich von vielen Ansätzen, bei denen „Diskurs so ‚veranstaltet‘ (wird), dass dadurch verhindert wird, dass Denken stattfinden kann (...). Mehr Praxisformen, mehr Differenz, statt schlechte Vermischung. Es ginge eher um die Verteidigung des und statt des als. Nicht Kunst als Theorie, nicht Theorie als Kunst, sondern Kunst und Theorie.“ [34] Dementsprechend fanden auch sehr viele tatsächlich „schöne“ Ausstellungen u.a. von Christopher Williams, Louise Lawier oder IMI Giese statt, die es nicht einfach machten, das Ganze „in ein alternatives Eck abzudrängen. Es ging darum, mit den Kontrasten zu arbeiten, also das Lokale nicht einfach gegen die internationale Kunstwelt bzw. das Politische gegen das Ästhetische, das Aktivistische gegen das Installative zu stellen, sondern darum, möglichst überraschende Verknüpfungen herzustellen. Das heißt, das Publikum sollte nicht wissen, was es erwartet, und dieses Arbeiten an den unterschiedlichen Erwartungshaltungen schien immer auch etwas damit zu tun zu haben, wie der jeweilige Klassen-Habitus adressiert werden konnte.“ [35]

Text: Adrian Djukic
Lektorat: Gloria Hasnay
Herzlichen Dank an Stephan Janitzky, Ingrid Scherf, Doris Würgert und Laura Ziegler.

Bei Fragen zum Martina Fuchs Archiv wenden Sie sich gerne an Jonas von Lenthe über archiv@kunstverein-muenchen.de.

Fußnoten:

[1] Beispielsweise im Rahmen der Talkshow zu Telling Histories, 2003 (Stand: 20.07.2021).
[2] BayHStA, Kultusministerium (MK) 51577, Schreiben des Pressereferats vom 28.08.1970.
[3] Die ersten Ausstellungstätigkeiten nach der Gründung 1823 fanden erst 1824 statt.
[4] BayHStA, Kultusministerium (MK) 51577, Einladung zur Mitgliederversammlung, 28.07.1970.
[5] So der damalige stellvertretende Vorsitzende Frank Thomas Gaulin im Fernsehbeitrag „Grenzland Kunstetat“ des Bayerischen Rundfunks vom 24.11.1971.
[6] Kunstverein München e.V.: 150 Jahre Kunstverein München. Dokumentation zur Frühgeschichte des Kunstvereins. Jahresgaben des Kunstvereins 1826 bis 1973/74, München 1974, S. 12.
[7] So eine Bezeichnung für den Kunstverein in: Kunstverein München e.V.: Andrea Fraser: Eine Gesellschaft des Geschmacks, München 1993.
[8] Z.B. Arte Povera (1971), Eduardo Arroyo (1971) oder Renato Guttuso (1972).
[9] „Interview mit Barbara Gross“, in: Maria Lind et al. (Hrsgg.): Spring Fall 02 - 04, gesammelte Drucksachen, collected newsletters / Kunstverein München, Frankfurt 2005, S. 181–185, hier: S. 185.
[10] Kunstverein München e.V.: Die ASSO und die revolutionäre bildende Kunst der 20er Jahre, München 1971, S. 11.
[11] BayHStA, Kultusministerium (MK) 51577, Brief Baldwin vom 02.02.1971.
[12] Gespräch mit Haimo Liebich im Kunstverein am 03.11.2020.
[13] Karl Stankiewitz: „Heile Welt – triste Welt. Bilder und Dokumente über Gastarbeiter im Münchner Kunstverein“, Münchner Merkur 150 vom 04.07.1975.
[14] Verena von der Heyden-Rynsch (Hrsg.): Riten der Selbstauflösung, München 1982, S. 22.
[15] „Ein Gespräch zwischen Harun Farocki, Georges Didi-Huberman und Ludger Schwarte im Schaulager Basel, 2008. Dispersion und Montage“, https://www.textezurkunst.de/articles/interview-schwarte-farocki-huberman/ (Stand: 28.06.2021).
[16] So die Landshuter Zeitung vom 14.02.1995 zur Ausstellung No Hesitation, No Repetition, No Deviation von Cathy Skene und Christoph Schäfer, bei der sich die Besucher*innen Kleidungsstücke aussuchen konnten, wenn sie im Gegenzug etwas da ließen.
[17] Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt 2012, S. 12.
[18] Adrian Piper: „Some Thoughts on the Political Character of this Situation“, in: Sabine Breitwieser (Hg.): Adrian Piper seit 1965: Metakunst und Kunstkritik, Köln 2002, S. 227–228, hier: S. 228.
[19] Neben der im Archiv Newsletter No.2 vorgestellten ersten europäischen Einzelausstellung von Adrian Piper 1992 etwa FF REW Film – Filme der schwarzen Diaspora in Großbritannien 1975–1989 (1995), aber auch zahlreiche Veranstaltungen, u.a. der Agentur Bilwet (11.02.1994) oder im Rahmen der Sommerakademie (1994).
[20] Die Redaktion bestand u.a. aus Katja Diefenbach, Helmut Draxler, Stephan Gregory, Reinhard Jellen, Pia Lanzinger, Ingrid Scherf, Jürgen Söder, Jan Strzelczyk und Hartwig Tesar. Mehr hierzu unter: https://material-verlag.hfbk-hamburg.de/material/423-die-arbeitinfo (Stand: 16.07.2021). Ebenfalls zu nennen wären hier u.v.a. minimal club (Berlin/München), das Zeitschriftenkollektiv Die Beute oder die Gruppe BüroBert (Düsseldorf).
[21] Jochen Becker: „Vorstädter Raus“, taz vom 03.03.1993.
[22] Interview mit Helmut Draxler in: Fareed Armaly: Parts: Band 1. Arkaden / Eingang. Kunstverein München, 1997, o.S. Die Räumlichkeiten wurden zusätzlich „mit einer faschistoiden Ästhetik angereichert“.
[23] Helmut Draxler: „Das kulturelle Kapital des Kunstvereins“ in: Andrea Fraser: Eine Gesellschaft des Geschmacks., S. 3–23, hier: S. 21.
[24] Andrea Fraser: „Es ist Kunst, wenn ich sage, daß es das ist, oder…“, in: Texte zur Kunst Nr. 20, November 1995, S. 35–40, hier: S. 37.
[25] Presseankündigung zu Game GRRRL (1994).
[26] „Gabi Czöppan und Maribel Königer im Gespräch mit Helmut Draxler: ‚Der Kunstverein wird zum Hörsaal, aber er verkommt dabei nicht…‘“, in: Kunstforum Nr. 115, S. 386–389, hier: S. 387.
[27] Helmut Draxler, Hedwig Saxenhuber: „(Re-)Politisierung und kuratorische Produktion“, in: Bernd Miller, Heike Munder (Hrsgg.): Tatort Kunstverein – Eine kritische Überprüfung eines Vermittlungsmodells, Nürnberg 2001, S. 39–46, hier: S. 46.
[28] Fernsehbeitrag über Die Arena des Privaten im Bayerischen Rundfunk am 14.04.1993.
[29] Agentur Bilwet: „Ursprüngliches Besetzen. Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit“, in: Martin Hoffmann (Hg.): SubversionsReader. Texte zu Politik und Kultur. 10 Jahre ID Verlag, Berlin 1998, S. 11–27, hier: S. 12.
[30] „Kunst und Techno. Performance im Kunstverein“, Süddeutsche Zeitung vom 11.02.1994.
[31] „Kommunismus für Eliten - Toni Negris fröhlicher Operaismus“, Vierte Hilfe. Illustrierte Theorie für das Dienstleistungsproletariat, Winter 1997, S. 39–41.
[32] „Auto*matik – Arbeit, Nicht-Arbeit, Ersatz, happy oder unhappy Lebensunterhalt“, ebd., S. 42–45, hier: S. 42.
[33] Tatort Kunstverein, S. 42.
[34] „21 Jahre nach dem Erscheinen von ‘Zum Zusammenhang’ in Team Compendium spricht MUSS STERBEN mit JULIANE REBENTISCH über ihren Text und was sich seit damals verändert hat”, Europa Muss Sterben #5 2017, o.S.
[35] Gespräch mit Helmut Draxler, 09.07.2021.

Abbildungsverzeichnis:

[1] Frauentreffen der deutschen Frauenemanzipationsgruppen, Kunstverein München, 1973. Foto: Margarete von Diringshofen. COurtesy Stadtarchiv München (FS-NL-DIR-10).
[2] "tz-Rose" für die Abwahl des konservativen Vorstandes 20.09.1970
[3] Jannis Karydakis: Abb. aus "Gastabeiter" - zur Lage ausländische Arbeiter in der BRD. Ausstellungskatalog, Courtesy Kunstverein München e.V., 1975.
[4] Installationsansicht: One Person Repressed Past Is Another Persons Life in: Cathy Skene & Christoph Schäfer: No Hesitation, No repitation, Do Deviation. Kunstverein München, 1995. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Wilfried Petzi.
[5] Fundstück aus dem Archiv (Sommerakademie, 1994)
[6] Installationsansicht: Group Material, Market, Kunstverein München, Infoscreen U-Bahn München, 1995. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Wilfried Petzi.
[7] Katalog-Cover: Kunst als Waffe. Die ASSO und die revolutionäre bildende Kunst der 20er Jahre, 1971. Courtesy Kunstverein München e.V.
[8] Installationsansicht: 15 Jahre 1980, Kunstverein München, 1995. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Ingrid Scherf.

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