Archiv Newsletter No. 8.2

September 2020

Der Klassenbegriff im Kunstverein München
Teil 2: Entwicklung des Vereins im 19. Jahrhundert

In Begleitung zur Ausstellung Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse setzt sich die aktuelle Newsletter-Folge mit dem Klassenbegriff im Kunstverein München auseinander, von der Gründung bis in die jüngere Gegenwart. Nach den Anfängen in Teil 1 findet Teil 2 diesen Klassenbegriff in weiteren Entwicklungen im 19. Jahrhundert, diesmal mit besonderem Blick auf das städtische Umfeld und den im Kunstverein präsentierten Stil.
Die partikulare Ausrichtung der Mitgliederstruktur, die in Teil 1 aufgefallen ist, ändert sich im 19. Jahrhundert nicht mehr wesentlich.
Vielmehr sinkt sogar die Beteiligung von Künstler*innen zugunsten der wohlhabenden Kunstfreunde. Ab 1848 gibt es im Verein zwar auch einige Handwerker und Angestellte. Das jedoch bewegt wiederum zahlreiche adelige Mitglieder zu Austritten, die sich weigern, in einem so verbürgerlichten Verein organisiert zu sein [1]. Insgesamt bleibt ein bessergestelltes Bürgertum aber unter sich, nicht nur im Münchner Kunstverein – auch wenn sich hier eine spezifische Sozialstruktur findet, die das begünstigt. Der erste Halbjahresbericht von 1824 fasst das Nebeneinander von Kaufkraft und Künstler*innentum so zusammen: „In der Hauptstadt München und in dem Umfange des Königreichs Baiern befindet sich eine beträchtliche Anzahl von bildenden ausübenden Künstlern (...). Ebenso zahlreich sind die Kunstliebhaber und Freunde, wovon Viele einen Schatz von vorzüglichen Kunstwerken aus den verschiedenen Fächern der bildenden Künste besitzen.“ [2]

Schon damals war München außerdem eine Stadt, die von starker Polizeipräsenz geprägt war. Das öffentliche Leben wurde mit peinlicher Genauigkeit von Behörden und Gendarmen überwacht und kontrolliert, „der unleidlichste Polizeidruck lastete auf der Stadt“ [3]. Künstler*innen wurden in dieser Atmosphäre als Elemente angesehen, die den Zielen des Staates eher entgegenstehen. Obwohl es mit Blick auf die zukünftigen Mitglieder wenig Grund gab einzugreifen, war dem Staat die Vereinsgründung nicht unwillkommen. Nach der polizeilichen Anmeldung des Kunstvereins durfte das Künstler*innentum nun einerseits in scheinbarer Unabhängigkeit agieren, die andererseits wiederum vom Staat gedeckt wurde. Das lag auch daran, dass die Vereine systemstabilisierende Wirkungen hatten, die Reste staatskritischer Gesinnung einzuhegen halfen: „Sie alle hatten ‚vaterländische‘, neubayerisch-patriotische Ziele, Förderung der bayerischen Wirtschaft, der bayerischen Kunst und Künstler.“ [4] Es kann davon ausgegangen werden, dass die Vereinsgründung gutgeheißen wurde, wie davor schon Staatskünstlertum und Ausbildung an der Akademie eine ordnende Funktion im Leben der Künstler*innen erfüllen sollten.

Es gibt bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts nur sehr wenige Bestrebungen, Kunstvereine für andere als die herrschende Klasse zu öffnen, in München ist davon gar keine dokumentiert. Der Versuch des Mannheimer Kunsthallen-Leiters Fritz Wichert, Angehörige aller Gesellschaftsschichten durch niedrige Mitgliedsbeiträge zusammenzubringen, brachte ihm sogar die Feindschaft des Mannheimer Kunstvereins ein. [5] York Langenstein berichtet in seiner Geschichte des Münchner Kunstvereins im 19. Jahrhundert von mehreren Fällen, in denen Aufnahmeanträge von Angestellten abgelehnt wurden.

1829 wird vom „Secretär Stademann“ allerdings die Idee vorgebracht, einen Unterstützungsfonds für bedürftige Künstler*innen einzurichten. Es kommt nicht zu ihrer Verwirklichung. In einem protokollierten Bericht äußert das Ausschußmitglied Johann von Plötz seine Bedenken: „So schön nun dieser Vorschlag an sich ist, und so leicht ausführbar er zu seyn scheint, so dürfte er doch auf die Mehrzahl der Mitglieder einen Eindruck hervorbringen, der dem des Instituts, dessen Erhöhung ein vorzügliches Augenmerk des Ausschusses seyn muß, eher hinderlich als günstig ist.“ [6] Vielmehr würde die Idee dem Prinzip des Kunstvereins entgegenstehen. „Wer hierher flüchtet von den Mühen des Tages zu den heitern Schöpfungen der Kunst, der sucht hier Erholung, er will nicht wieder gemahnt werden an die Unbilden der Zeit und an die Noth seiner Brüder.“ [7]

So organisieren die Vereine einerseits eine Öffentlichkeit jenseits des Geburtenzufalls, achten dabei aber gerade besonders auf Statusbezeichnungen, notfalls durch Zusätze: „(...) ebenfalls sehr oft wird der Hoftitel ergänzt“ [8], der im Kunstverein den Berufsbezeichnungen veredelnd vorangestellt wird. Je mehr sich die dort organisierte Mitgliedschaft, wenn auch sehr mäßig, ausdifferenziert, desto mehr setzt sich das Bedürfnis nach einem „distinguierten Anstrich“ [9] durch. Besonders bizarr drückt sich das in einem ausführlichen Streit darüber aus, „ob die Diener des Vereins künftig eine Livree tragen sollten und nicht mehr wie bisher bürgerliche Kleidung“ [10]. Während die einen darauf bestehen, dass der Kunstverein als bürgerliche Institution bescheiden und zurückhaltend auftreten sollte, befürchten die anderen, dass höherer Besuch sich so im schlimmsten Fall „versehentlich mit den Dienern“ [11] unterhalten könnte.

Weitere Anzeichen für das Bedürfnis nach Abgrenzung durch das Bedienen eines bestimmten Stils zeigen sich im Umbau des Vereinsgebäudes 1899/1900 durch u.a. Friedrich Thiersch, Franz von Lenbach und den Vorstand des Kunstvereins. Die Umgestaltung der Räume am Ende der Hofgartenarkaden, die mit ihren Marmorkaminen und anderen Details bereits als üppig galten, lief auf „einen Abglanz der großbürgerlichen Repräsentation“ [12] hinaus, mit allen Registern protziger Ornamentierung, die tatsächlich auch in Mitgliederkreisen umstritten war. „Bürgerliche Vereinsgeselligkeit nimmt so – entgegen ihrem Anspruch – oft ausgesprochen elitäre und exklusive Gestalt an, sie will nicht nur vornehme Gesinnung, sondern auch feine Gesellschaft demonstrieren. Dafür eignet sich Kunst vorzüglich, ohne die bürgerliche Exklusivität gleich in den Verdacht alten Privilegiendenkens geraten zu lassen. Denn im Unterschied zum Adel geht es hier nicht allein um Besitz, sondern um Kennerschaft.“ [13] Diese Kennerschaft wird in der Geschichte der Kunstvereine eine große Rolle bei der Entstehung eines neuen Sozialtyps spielen, der perfekt mit den selbst geschaffenen marktförmigen Strukturen harmoniert und ebenfalls auf eine starke Klassifizierung hinausläuft: Figuren im Dienst der Professionalisierung (mehr dazu im 20. Jahrhundert).

Der zur Abgrenzung herangezogene Stil war mitunter eher mittelmäßig (schon Ende der 1840er Jahre ist „ein Niveauabfall bemerkbar“ [14] und die Abgrenzung nach unten scheint mit diesem regelmäßig zusammenzufallen). Weniger das im Kunstverein eingeübte Entwickeln von Geschmack als das Bestätigen der Klassenherrschaft durch diesen Geschmack ist auffällig. Vorbereitet in der Literatur, fand die bürgerliche Stilistik unter anderem im Familienroman ein Modell. Auch hier lässt sich neben der Säkularisierung der höfischen Welt ein ähnliches Phänomen nachvollziehen. „Die Personen u. ihre Motivationen werden – auch wo sie politisch bleiben – privatisiert (u. so einem bürgerlichen Publikum nacherlebbar).“ [15]

Nicht zufällig setzt sich im Münchner Kunstverein im 19. Jahrhundert ein gefälliger Stil durch, der als „Dokumentation des ästhetischen Friedens mit dem politischen status quo“ [16] gedeutet werden kann. Die ausgestellten Kunstwerke und ihre Motive beziehen sich häufig auf einen vorausgesetzten bürgerlichen Bildungskanon. Die Suche nach Kunstwerken, die prinzipiell alle angehen könnten, findet kaum statt bzw. die Auseinandersetzung, warum es die eben nicht gibt. Diese Herrschaftskultur ist „Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, also eines praktischen Prozesses gesellschaftlicher Kämpfe. Hochkulturell sind diese Praktiken, weil sie sich ihrem Selbstverständnis nach binär einer Natur der unteren Klassen, der Masse, des Volkes übergeordnet haben, die über diese Kultur nicht verfügen sollen, und über die Herrschende und Intellektuelle Führungsansprüche erheben.“ [17] Darüber hinaus verstärken sich gegen Ende des Jahrhunderts im Kunstverein die nationalistischen Tendenzen dieser Herrschaftskultur.

In den nächsten Folgen des Newsletters werden wir uns den Klassenbegriff in verschiedenen Episoden des Kunstverein München im 20. Jahrhundert anschauen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, inwieweit die im 19. Jahrhundert geschaffenen Voraussetzungen unbeschädigt wirksam bleiben und wann und wie sie als Problem wahrgenommen werden.

Text: Adrian Djukic
Lektorat: Maurin Dietrich und Gloria Hasnay

Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie uns gerne über archiv@kunstverein-muenchen.de.

Fußnoten:

[1] Kunstverein München (Hrsg.): 150 Jahre Kunstverein. Dokumentationen zur Frühgeschichte des Kunstvereins. Jahresgaben des Kunstvereins 1825 bis 1973/74. München 1974, S. 6.
[2] KVB (Berichte über den Bestand und das Wirken des Kunstvereins in München), 1. Halbjahr 1824, S. 4.
[3] Friedrich Precht: Aus meiner Zeit. Lebenserinnerungen. München 1894, S. 100, Zitiert nach: York Langenstein: Der Münchner Kunstverein im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entwicklung des Kunstmarkts und des Ausstellungswesens, München 1983, S. 55.
[4] Ingo Tornow: Das Münchner Vereinswesen des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte. Phil. Diss. München 1976, S. 249.
[5] Thomas Schmitz: Die deutschen Kunstvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Neuried 2001, S. 189.
[6] 150 Jahre Kunstverein, S. 20.
[7] Ebd.
[8] Tornow, S. 223.
[9] Langenstein, S. 122.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd., S. 199.
[13] Wolfgang Kaschuba: Kunst als symbolisches Kapital. In: Peter Gerlach (Hrsg.): Vom realen Nutzen idealer Bilder. Kunstmarkt und Kunstvereine. Aachen 1994, S. 9–20, hier: S. 16.
[14] Tornow, S. 115.
[15] Werner Hahl: Art. „Gattungspoetik“. In: Volker Meid (Hrsg.): Sachlexikon Literatur. München 2000, S. 308–12, hier: S. 310.
[16] Gert Reising: 1818/1848/1989. Zur Frühgeschichte deutscher Kunstvereine. In: Gerlach, S. 112–125, hier: S.125.
[17] Alex Demirovic: Kultur für alle – Kultur durch alle. Demokratische Kulturpolitik und soziale Transformation. In: Texte zur Kunst Nr. 12, Köln 1993, S. 39–52. Zitiert nach: Inge Westphal, Martin Freitag: Die Kunstakademie und ihr Zusammentreffen mit dem herrschenden Sozialen. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.): Akademie. München 1995, S. 110–57, hier: S. 135.

Abb.:

  1. Friedrich Thiersch: Oberlicht - Saal (Perspektive), Umbauprojekt für das Kunstvereinsgebäude in München, 1889–99. Courtesy Architekturmuseum der TU München.
  2. Begleitschreiben der Polizei und Abschrift des Genehmigungsschreibens (Zulassung des Kunstvereins als Privatgesellschaft), 23.12.1823 / 20.01.1824. Konvolut York Langenstein, Courtesy Kunstverein München e.V.
  3. Illustrirter Spaziergang durch München. Ein Panorama der bedeutensten Strassen, Plätze und Gebäude, „Einfahrt z.engl.Garten, Kunstverein, K.Hofreitschule“, ca. 1864. Courtesy Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv.
  4. Das Dornröslein, ein Mährchen nach Grimm. Radierung von Eugen Napoleon Neureuther nach eigenem Entwurf. Jahresgabe 1836. Courtesy Staatliche Graphische Sammlung München.
  5. Friedrich Thiersch, Entwurf für die Bemalung der Hohlkehle im Treppenhaussaal des Kunstvereinsgebäudes, 1890. Courtesy Architekturmuseum der TU München.
  6. KVB (Berichte über den Bestand und das Wirken des Kunstvereins in München), 1. Halbjahr, Titelblatt, 1824. Courtesy Bayerische Staatsbibliothek München.
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