Archiv Newsletter No. 8.1

September 2020

Der Klassenbegriff im Kunstverein München
Teil 1: Die Anfänge im 19. Jahrhundert

Welche Rolle spielt der Begriff „Klasse“ in der fast 200-jährigen Geschichte des Münchner Kunstvereins? In Begleitung zur Ausstellung Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse werden die nächsten vier Folgen des Archiv Newsletters dieser Frage nachgehen, von der Vereinsgründung bis in die jüngere Gegenwart.

„Von Anfang an waren Kunstvereine und Museen in Deutschland an die Entstehung der bürgerlichen Klasse und den Ausdruck ihres Selbstbewusstseins gebunden. Darüber hinaus waren Kunstinstitutionen ein starkes Instrument der Repräsentation der bürgerlichen Kultur. (...) Wir alle wissen heute, wie ‚emanzipativ‘ und radikal dieses Konzept anfangs war, die Kunst vom Einfluss des Hofes und der Kirche zu befreien, gleichzeitig aber auch, wie ideologisch.“ [1]

Bevor der Klassenbegriff explizit in Ausstellungen auftaucht, ab Anfang der 1970er Jahre (um dann immer mal wieder als Problem der Institution erkannt zu werden), prägt eine bestimmte Vorstellung davon schon die Gründung des Vereins. Für wen die Assoziation da sein sollte, gegen wen sie gegründet werden musste, wen sie repräsentieren sollte und wen gerade nicht – in Diskussionen, scheinbaren Nebensächlichkeiten oder auch Einrichtungsfragen zeichnet sich ab 1823 das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ziemlich deutlich ein Klassenbegriff ab, manchmal explizit und manchmal unfreiwillig.

„Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“ [2] Klassen sind somit alles andere als naturgegeben. Sie bilden vielmehr die Nähe oder Entfernung von Menschen zum gesellschaftlichen Reichtum ab – und damit auch unvereinbare Interessen.

Als der Kunstverein München 1823 gegründet wurde, waren daran neben Künstler*innen hauptsächlich das wohlhabende Bürgertum und der Adel beteiligt. Die relativ neue Idee von selbstverwalteten Vereinen stand in Verbindung zu Idealen der Aufklärung. Demnach sollte die Kunst von ihren kirchlichen und höfischen Verwicklungen gelöst werden. Die gesellschaftliche Voraussetzung dafür war die angestrebte Beendigung der Zwänge der Ständegesellschaft. Das schlug sich auch in der Organisationsstruktur der Vereine nieder, die individualistisch und demokratisch gefasst war, „da man das Dictatorische bei dieser Stelle scheute, und die Sache durchaus nach Grundsätzen der Gleichheit betreiben wollte.“ [3] Dennoch spielten bei der Gründung des Kunstverein München auch hofnahe Kräfte eine Rolle – auf deren Gunst die Umsetzung der Idee angewiesen blieb. In dieser Hinsicht war München kein Einzelfall – u.a. beim Badischen Kunstverein in Karlsruhe und in Augsburg gab es ähnlich enge Verbindungen zu höfischen Strukturen.

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt (...).“ Doch „(d)ie aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“ [4] Im historischen Maßstab stellt die Selbstermächtigung der Bürger*innen zu dieser Zeit also einen qualitativen Sprung dar. „In der Kunstmetropole München wird anfangs ein gewisser oppositioneller Zug hinzugekommen sein durch die Demokratisierung der Kunst (...), durch die Vertretung, Förderung, ja Überbetonung eines Kunstgeschmacks, von Gattungen, die von Hof und Akademie, also offiziell, verpönt wurden (Landschafts-, Genremalerei).“ [5]

In seiner ausführlichen Studie zur Geschichte des Münchner Kunstvereins im 19. Jahrhundert kontrastiert York Langenstein die Vereinsgründung durch die vorangegangene Zeitphase : „In der bis in das späte 18. Jahrhundert hinein rein ständisch aufgebauten Gesellschaft war der Lebensraum des Einzelnen meist schon von Geburt an weitgehend definiert; der persönliche und berufliche Werdegang, die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften und Zünften stand nicht zur Disposition, sondern war Teil der nicht in Frage zu stellenden existenziellen Rahmenbedingungen.“ [6] Dies begann sich jetzt nicht von Grund auf, aber für manche zu verändern. Neben den Handwerker- und Kaufmannsschichten entstanden neue Tätigkeiten in den Wissenschaften, bei Zeitungen, im Schulwesen oder auch in Handelsunternehmen. Auch das Leben neben der Arbeit trägt Züge neuer Freiheiten: selbst gewählte Interessensgemeinschaften verabreden sich, um sich zu unterhalten oder sich weiterzubilden, beispielsweise in Lesegesellschaften. Das in vielen Vereinen vertretene Bildungsideal stammt aus einer speziellen Gewichtung der Aufklärung in Deutschland. Anders als in manchen Nachbarländern (bei der Französischen Revolution oder den Aufständen in England) ging es hier aber weniger um kollektive Ermächtigungen.

„Denn die Revolution hat ja in Deutschland nicht stattgefunden, und der aufrührerische Geist verlor sich in Nationalismus und Biedermeier.“ [7] Weniger das Erkämpfen von Rechten als das zur Bildung angehaltene Individuum steht im Fokus der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik. Eine Grenze zum gebildeten Bürgertum mit verfeinertem Geschmack stellen diejenigen dar, die derartigen Beschäftigungen keine Aufmerksamkeit widmen (können). Langenstein zitiert Schillers breit rezipierte Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“: „In den niedern und zahlreichen Klassen stellen sich uns rohe und gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesselt und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen.“ [8]

So bildet sich unter dem Dach des Kunstvereins eine abgegrenzte Gesellschaft, die trotz aufklärerischer Ideale gekennzeichnet ist durch „eine konservative politische(n) Grundeinstellung, die sich im Lauf der Zeit noch verstärkte (...). Bezeichnend für die oft geradezu restaurativen Neigungen, für das nicht nur willige sondern fast schon begierige Akzeptieren der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts ist der dem Verzeichnis der ordinären Mitglieder vorgeschaltete, nach allen Regeln der Etikette aufgebaute Katalog königlicher oder fürstlicher Häupter, die durch ihre Mitgliedschaft den Verein zierten, wie wir ihn nicht nur in den Rechenschaftsberichten des Münchner Kunstvereins vorfinden.“ [9]

Einerseits spielen die Kunstvereine eine Rolle bei der Demokratisierung der Kunst durch Serialität und Reproduzierbarkeit, etwa durch die in Jahresgaben veräußerten Druckgraphiken. Neue, weltliche Absatzmärkte außerhalb von Hof und Kirche werden für Kunstwerke erschlossen. Allerdings gehorchten die so produzierten kleinformatigen Bilder auch den Anforderungen der von den Bürger*innen bezogenen Wohnungen. Die neu geschaffene Vertriebsstruktur für Kunstwerke erreicht tendenziell ein größeres Publikum und ist darin auf den ersten Blick auch demokratischer. [10] „(B)eim Studium der Mitgliedslisten zeigt sich aber, daß fast ausschließlich Vertreter der Oberschicht der Gesellschaft angehörten. Man darf vermuten, daß hier nicht nur der nicht unerhebliche Mitgliedsbeitrag seine abschreckende Wirkung (…) ausübte (…), sondern daß die Beitrittsanträge von nicht in den Kreis der Mitglieder passenden Personen abgelehnt wurden.“ [11] „Die Mitgliedschaft setzte eine gewisse Zahlungsfähigkeit voraus, denn sie wurde erworben durch den Kauf einer oder mehrerer Vereinsaktien.“ [12] Zugelassen waren „gebildete Männer“ [13] – Frauen wurden erst ab 1829 aufgenommen und waren erst im nächsten Jahrhundert, ab 1902, im Zuge einer krisenbedingten Modernisierung stimmberechtigt. [14]

In der nächsten Folge des Newsletters schauen wir uns die Zusammensetzung der Mitglieder im 19. Jahrhundert noch genauer an. Außerdem wird es um die Rolle der Polizei, die Kleidung der Vereinsdiener und einen Umbau des Vereinsgebäudes gehen.

Text: Adrian Djukic
Übersetzung und Lektorat: Adrian Djukic, Maurin Dietrich und Gloria Hasnay
Herzlichen Dank an Theresa Bauernfeind für zahlreiche Literaturhinweise

Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie uns gerne über archiv@kunstverein-muenchen.de.

Fußnoten:

[1] Barbara Steiner, Conflicts and collisions among the “acteurs” in contemporary art institutions. In: Liam Gillick und Maria Lind, Curating with light luggage, München, Frankfurt 2005, S. 53–61, hier: S. 53.
[2] Lenin, Die große Initiative. In: Werke, Band 29, Berlin 1984, S. 397–424, hier: S. 410.
[3] Kunstverein Protokoll, München 1824, S. 2.
[4] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. In: Werke, Band 4, Berlin 1972, S. 459–493, hier: S. 463.
[5] Ingo Tornow, Das Münchner Vereinswesen des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte. Phil. Diss., München 1976, S. 230.
[6] York Langenstein, Der Münchner Kunstverein im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entwicklung des Kunstmarkts und des Ausstellungswesens, München 1983, S. 6.
[7] Stephan Dillemuth, Helmut Draxler, Nikolaus Pevsner, Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.), Akademie, München 1995, S. 8–35, hier: S. 21.
[8] Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Sämtliche Werke, Band 5, München 1962, S. 570–669, hier: S. 579. Zitiert nach: Langenstein, S.11.
[9] Langenstein, S. 12.
[10] Vgl. Alice Creischer, Das Genie als Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.), Akademie, München 1995, S. 82–102.
[11] Ebd., S. 12 f.
[12] Walter Grasskamp, Die Einbürgerung der Kunst. Korporative Kunstförderung im 19. Jahrhundert. In: Jutta Dresch und Wilfried Rößling (Hrsgg.), Bilder im Zirkel. 175 Jahre Badischer Kunstverein, Karlsruhe 1993, S. 19–24, hier: S. 19.
[13] Langenstein, S. 61 f.
[14] Ebd., S. 216.

Literatur:

Creischer, Alice: Das Genie als Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.): Akademie, München 1995, S. 82–102.

Demirovic, Alex: Kultur für alle – Kultur durch alle. Demokratische Kulturpolitik und soziale Transformation. In: Texte zur Kunst, Nr. 12, Köln 1993, S.39–52. Zitiert nach: Inge Westphal, Martin Freitag: Die Kunstakademie und ihr Zusammentreffen mit dem herrschenden Sozialen. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.): Akademie, München 1995, S.110–157.

Dath, Dietmar, Kirchner, Barbara: Der Implex: Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, Berlin 2012.

Diederichsen, Diedrich: Musikzimmer. Köln 2005.

Dillemuth, Stephan, Draxler, Helmut, Pevsner, Nikolaus: Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen. In: Stephan Dillemuth (Hrsg.): Akademie, München 1995, S. 8–35.

Grasskamp, Walter: Die Einbürgerung der Kunst. Korporative Kunstförderung im 19. Jahrhundert. In: Jutta Dresch und Wilfried Rößling (Hrsgg.): Bilder im Zirkel. 175 Jahre Badischer Kunstverein, Karlsruhe 1993, S.19–24.

Grasskamp, Walter: Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1994.

Hahl, Werner: Art. „Gattungspoetik“. In: Volker Meid (Hrsg.): Sachlexikon Literatur, München 2000, S. 308–12.

Kaschuba, Wolfgang: Kunst als symbolisches Kapital. In: Peter Gerlach (Hrsg.): Vom realen Nutzen idealer Bilder. Kunstmarkt und Kunstvereine, Aachen 1994, S.9–20.

Kunstverein München (Hrsg.): 150 Jahre Kunstverein. Dokumentationen zur Frühgeschichte des Kunstvereins. Jahresgaben des Kunstvereins 1825 bis 1973/74, München 1974.

Kunstverein Protokoll, München 1824.

KVB (Berichte über den Bestand und das Wirken des Kunstvereins in München), 1. Halbjahr 1824.

Langenstein, York: Der Münchner Kunstverein im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entwicklung des Kunstmarkts und des Ausstellungswesens, München 1983.

Lenin: Die große Initiative. In: Werke, Band 29, Berlin 1984, S. 397–424.

Marx, Karl und Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Werke, Band 4, Berlin 1972, S. 459–93.

Reising, Gert: 1818/1848/1989. Zur Frühgeschichte deutscher Kunstvereine. In: Peter Gerlach (Hrsg.): Vom realen Nutzen idealer Bilder. Kunstmarkt und Kunstvereine, Aachen 1994, S. 112–25.

Schmitz, Thomas: Die deutschen Kunstvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Neuried 2001.

Steiner, Barbara: Conflicts and collisions among the “acteurs“ in contemporary art institutions. In: Liam Gillick und Maria Lind: Curating with light luggage, München, Frankfurt 2005, S. 53–61.

Tornow, Ingo: Das Münchner Vereinswesen des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte. Phil. Diss., München 1976.

Abb.:

  1. Friedrich Thiersch, Perspektivischer Schnitt zu dem Umbauprojekt für das Kunstvereinsgebäude in München, Mai 1890. Courtesy Architekturmuseum der TU München.
  2. Die Münchner Künstler und ihre Schöpfungen unter Ludwig I., lavierte Feder- und Bleistiftzeichnung von Eugen Napoleon Neureuther, ca. 1845. Courtesy Staatliche Graphische Sammlung München, Sammlung Maillinger.
  3. Tagebuch über Einnahmen und Ausgaben des Kunstvereins für das Jahr 1824, Titelblatt, 1824. Courtesy Stadtarchiv München, Bestand Vereine 256.
  4. Rechenschaftsbericht des Verwaltungs-Ausschusses des Kunst-Vereins in München für das Jahr 1844. Courtesy Bayerische Staatsbibliothek München.
  5. Album mit sechs Lithographien mit Tierstudien. Vom Verfasser Raffael Wintter dem Kunstverein gewidmet, 1832. Courtesy Staatliche Graphische Sammlung, München.
  6. Die Ruinen des Colosseums, Lithographie von Andreas Borum nach Carl Rottmann, Jahresgabe 1828, Stadtmuseum München, Sammlung Maillinger.
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