Archiv Newsletter No. 7.2

April 2020

Die Architektur und der festgelegte Standort des Kunstverein München wurden bereits im ersten Teil dieser Newsletter-Reihe als wiederkehrende Bedingtheiten für künstlerische und kuratorische Projekte nachgezeichnet. Ausstellungen wie Parts des Künstlers Fareed Armaly, 1997, oder die von Heimo Zobernig zwei Jahre später machen deutlich, wie konstant und vielfältig die Räume an der Nordseite des Hofgartens, die seit den 1960er Jahren vom Kunstverein genutzt werden, eingehend reflektiert, verändert und wie mit ihnen perspektivisch variierend umgegangen wurde.
Das änderte sich auch nicht in den Folgejahren, jedoch findet sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt der Versuch, die Institution nach außen hin zu öffnen und sie auch losgelöst von ihrem festgelegten Standort zu denken. Die wachsende Aufmerksamkeit für kuratorische Formate [1] im Diskurs der zeitgenössischen Kunst, der immer globaler agierende Kunstmarkt sowie die wachsende Bedeutung der Europäischen Union eröffneten neue Möglichkeiten, die zur Hinterfragung und räumlichen Erweiterung des Gefüges Institution führten und dieses nun auch als Handlungsraum jenseits von ihrem festgelegten architektonischen Gerüst begriff. Der zweite Teil widmet sich ausgewählten Projekten des Programms der letzten zwanzig Jahre und möchte diese sowie verschiedene kuratorische Ausrichtungen der regelmäßig wechselnden Direktor*innen und dem jeweiligen kuratorischen Team aufgreifen, um einen Einblick zu ermöglichen, wie das Gebilde Kunstverein München fortan aufgebrochen und weiterentwickelt wurde.

Mit der Übernahme der Leitung rückte Maria Lind (Direktorin 2002-04) einmal mehr die Verantwortung der Institution in den Vordergrund, ihre Selbstreflexivität stets wachzuhalten und dabei auch die architektonischen, lokalen Grenzen zu überwinden. Diese Selbstreflexivität verstand sie „zwischen Museum und Galerie als verlängertes Studio in die Öffentlichkeit.“ [2] Dieser Gedanke wird in den meisten der damals realisierten Projekte ersichtlich. Ein besonderes Augenmerk legte das kuratorische Büro [3] unter Lind dabei auf die Überwindung der räumlichen Geschlossenheit, die durch den grundlegenden Umbau des Eingangsbereichs besonders zum Tragen kommt: „Im Stadtzentrum, direkt am Hofgarten gelegen, befindet sich die Institution Kunstverein München in einem Teil der Stadt, der von repräsentativen und stadtpolitischen Interessen sowie Flaniermeilen und touristischen Zielen dominiert wird. Dieser [...] indiziert zugleich auch eine Erwartungshaltung an die Aktivität dieser Institution. Oder anders ausgedrückt: die räumliche Positionierung der Kunstinstitution innerhalb der Stadt und ihre architektonische Hülle spiegelt und gestaltet bereits ihr Verhältnis zu der gesamten sie umgebenden sozialen Realität mit. In Bezug auf das Publikum, und die Art und Weise, wie dieses durch die Institution mit Kunst in Verbindung gesetzt werden soll, ist neben Position, Architektur und Ausstellungspraxis das Foyer die wichtigste programmatische Aussage. [Es] bildet die Schnittstelle zwischen einer Institution und ihren [Benutzer*innen].“ [4]

Die Neugestaltung des Foyers war das erste der sogenannten Sputnik-Projektreihe, die fortlaufend neben dem weiteren Ausstellungsprogramm bis 2004 stattfand und einen Raum des Ideenaustauschs für Kurator*innen, Künstler*innen und Kritiker*innen bot, welche die Institution mitgestalten sollten: „Sputnik, aus dem Russischen übersetzt, heißt soviel wie Gefährte oder Reisebegleiter. [Der Kunstverein München baute] zu einer Reihe von Personen aus der künstlerischen und kulturellen Praxis[, darunter u.a. Jan Verwoert, Deimantas Narkevičius, Jun Yang, Lynne Cooke und Matts Leiderstam] eine Langzeit-Beziehung auf.“ [5] Als erste ‚Sputnik‘ wurde die Architektin und Künstlerin Apolonija Šušteršič eingeladen, um „die große schlauchartige Form des großen Erdgeschossraumes, der als Foyer dient“ [6] neu zu überdenken. Šušteršič führt innerhalb ihres Werks kritische Analysen von Räumen und ihrem Umfeld durch, reflektiert dabei die „eingeschriebenen Ritualisierungen und Ideologien“ [7] und strukturiert diese mit der Absicht einer vor allem sozialen Verbesserung um.

„[D]ie Wände [wurden dabei] teilweise in Bücherregale verwandelt. Der Steinboden wurde durch capuccinofarb[en]en Hartgummibelag mit runden Noppen bedeckt. Diese Art von Bodenbelägen ist aus funktionalen öffentlichen Bereichen, wie Schule, Sportplatz oder öffentliche Verkehrsmittel bekannt. [So verkörpert er] im Gegensatz zum galerieartigen Betonboden [...] Nutzung und alltäglichen Gebrauch. Auch werden Geräusche [...] gedämmt; denn Hellhörigkeit trägt immer zur Autorität eines Raumes bei, indem sie die Bewegungen und Handlungen der [Benutzer*innen] akustisch überträgt. Die bislang vorhandene Bestuhlung mit Sitzschalen aus weißem Holz wurde komplett mit einem orangefarbenen Stoff und darunter liegendem Schaumstoff ausgekleidet.“ [8] (s. Abb. rechts) Zusätzlich wurde der Eingangsbereich mit einer mobilen und einklappbaren Bar, einer Magnetwand sowie einem Fernseher versehen. Die Farbauswahl verhalf dem Raum zu einer optischen Schrumpfung, die zu mehr Wohlgefühl beitragen sollte, genauso wie die bereitgestellten Liegestühle. Auf das Moment der Entspannung als Gegenmodell zum ungebremsten Produktivitätsdruck in der Kunstwelt stößt man innerhalb Apolonija Šušteršičs Werk immer wieder. „[Ihre] Praxis kann als Umsetzung einer ‚Politik im Raum‘ beschrieben werden. Ein ‚transdisziplinärer‘, kooperativer Ansatz als solcher ist bei der Analyse so unterschiedlicher Kontexte wie dem städtischen Leben, Kunstmuseen und anderen Institutionen und sozialen Räumen absolut unerlässlich. Die künstlerische Forschung von Šušteršič verbindet Theorie und Praxis, um eine Methode der Reflexion zu verfolgen, bei der eine momentane Situation der Kritik dazu führt, konstruktive Alternativen und Hoffnungsräume zu aktivieren.“ [9]

Das Foyer wurde so zu einem Raum für Austausch und Begegnung, der die Handlungen der Institution einsehbar machte und einen unmittelbaren Verbindungspunkt zwischen innen und außen herstellte. Hier traf man sich, führte Gespräche, las und arbeitete. Auch die Mitarbeiter*innen des Kunstvereins waren in diesem Raum präsent und zugänglich. Das unterstützte eine andere Wahrnehmung für die Unternehmungen des Kunstverein München, die eben auch durch die Transparenz der täglichen Arbeit der Mitarbeiter*innen evoziert wurde. Die größere Sichtbarkeit und die Öffnung des Foyers war der erste Schritt, um die Begrenztheit der Institution durch Mobilität von Kommunikation aufzubrechen und zu überwinden.

Die Kurator*innen und Šušteršič dachten aber noch weiter und planten die Versetzung der gläsernen Eingangstür hin zur Seite des Hofgartens. Dadurch würde sie sich „dem beliebtesten Gehweg aller [Spaziergänger*innen] zuwenden, der zwischen Hofgarten und Kunstverein wie eine beidseitige durchlässige Membran liegt: den Arkaden.“ [10] Es blieb bei der Idee und wurde nie realisiert. Weitere Umbaupläne unter Maria Lind, wie die Nutzung des Dachstuhls als Künstler*innenhotel, konnten nicht umgesetzt werden. [11] Dennoch löste die neue „lobbyartige Raumsituation“ [12] den davor eher als Durchgangsraum empfundenen Eingangsbereich ab und bot auch für die darauffolgenden Sputnik-Projekte und die Teilnehmer*innen, die das Gefüge der Institution immer wieder neu und über längere Zeit belebten, beäugten, störten und reflektierten, einen Aufenthaltsort. Die Lobby, wie sie in dieser Zeit genannt wurde, entwickelte sich zum Ankerpunkt des ihr selbst zugrundeliegenden kuratorischen Gestus.

Maria Linds Überlegungen zur Überwindung der institutionellen Grenzen fußten vor allem auf der Bedeutung von Austausch, aber auch auf der Bewusstwerdung von Zeitlichkeit als Möglichkeit einer gegenwärtigen und bewussteren Wahrnehmung der Aktivitäten des Kunstvereins. Nicht nur die Sputnik-Projekte, die auf eine jahrelange Auseinandersetzung der eingeladenen Teilnehmer*innen ausgelegt waren, nutzte den Faktor Zeit, auch die Retrospektive Christine Borlands setzte auf ein größeres zeitliches Fenster: Von April 2002 bis April 2003 zeigte die in acht Stationen [13] gegliederte Ausstellung sukzessiv Werke der Künstlerin und präsentierte sie zudem an unterschiedlichen Orten im Gebäude. Die Werke eroberten ungeahnte Winkel der Architektur als Präsentationsfläche, wie die Garderobe, den Nebenraum des Mezzanins, der heute als kuratorisches Büro genutzt wird, die Lobby und das bis dato noch kaum für Ausstellungen in Betracht gezogenen Schaufenster. [14] So wurde dem dichten und komplexen Werk eine rezeptiv-adäquate Präsentation ermöglicht, die zudem die Architektur vollständig eroberte. Die achte und letzte Station mit dem Titel A Place Where Nothing Has Happened [Ein Ort an dem nichts passiert ist] löste sich komplett von den architektonischen Räumen und wurde auf dem Gelände der Akademie der Bildenden Künste inszeniert und ausgestellt. Borland entlehnt ihre Methoden „aus einem weiten disziplinären Spektrum – der Archäologie, Ethnologie, Kriminologie, der Medizin und den Naturwissenschaften – auch, indem sie Spezialist[*innen] aus diesen Fächern an ihren Arbeiten beteiligt.“ [15] Zusammen mit einem Beamten der Münchner Polizei wurde dieses öffentlich zugängliche Areal als ein Tatort behandelt und untersucht: sämtliche Hinterlassenschaften, wie Zigarettenstummel, Müll oder Fußspuren wurden dokumentiert und in einem nahe platzierten Baucontainer klassifiziert und ausgestellt. Damit endete die Retrospektive im offenen Stadtraum.

Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine Institution auch unabhängig von ihrer festgelegten Architektur und ihrem Standort agieren und in Erscheinung treten kann, verdichtete sich in den 2000er Jahren. Die Künstlerin Carey Young schuf als ‚Sputnik‘ parasitäre Interventionen und irritierte damit die Marketing- und Kommunikationsstrukturen des Kunstverein München mit revolutionären Aufrufen. Die dafür neuproduzierte Videoarbeit The Revolution is us! [Die Revolution sind wir!] wurde zwischen dem 16. und 21. Januar 2004 auf den Infoscreens an neun UcBahnstationen in München, darunter der Hauptbahnhof, das Sendlinger Tor, der Odeonsplatz und der Marienplatz [16], und im Schaufenster am Hofgarten gezeigt. Young untersucht in ihrer Arbeit Strukturen, die durch den kapitalistischen Motor geschaffen wurden und die Gesellschaft tiefgreifend beeinflussen und kontrollieren. Ihre Erfahrung als Consultant in einer international agierenden Unternehmensberatung nutzt sie entsprechend für ihre künstlerische Praxis und „verhält sich dabei wie ein Chamäleon, in rascher Bewegung zwischen zwei Welten, die man traditionellerweise gern getrennt hält: Kunst und Wirtschaft.. Aber um das System von innen einwirken zu können, benötigt man Fachwissen.“ [17] Young formuliert in ihren Videos, Performances und Ready-Mades aus dem Wirtschaftsbereich eine Kritik an der klassischen Institutionskritik und sucht nach anderen Formen, wie durch ihre Nutzung der Infoscreens erkennbar wird. Diese als Medium der Informationsvermittlung getarnten Werbeträger im öffentlichen Stadtraum fügen sich durch die formale Nachahmung der bereits vorhandenen Posterflächen perfekt ein und suggerieren dadurch eine vermeintliche Zurückhaltung, die sie medial nicht einhalten. Carey Young entwickelte mehrere Arbeiten, die sie zwischen 2002 und 2004 realisierte. The Revolution is us! verdeutlicht besonders die partielle physische Trennung von der gewohnten Ausstellungsfläche, denn sie hielt durch die zusätzliche Miteinbeziehung des Schaufensters am Hofgarten die Verbindung zur Architektur des Kunstvereins aufrecht und schuf damit eine Verlagerung in ein Außen, die gleichzeitig die architektonische Hülle der Institution im Blick behielt.

Die Auslotung der räumlichen Grenzen einer Institution findet sich in weiteren wichtigen Projekten unter Maria Lind, darunter besonders die Ausstellung Total Motiviert - Ein Soziokulturelles Manöver, welcher die Überlegungen zum Ausstellungsraum und damit zur Ausstellung an sich als Grenzform vorausgehen und dabei drei metaphorische Raumkonzepte – Blase, Grenze und Verdopplung [18] – einbezieht, die sich der Frage widmen, welche Räumlichkeiten welche Diskurse produzieren und welche Diskurse in welchen Räumlichkeiten stattfinden. [19] „Die Frage nach der räumlichen Performanz des Ausstellungsraumes setzt sich auseinander mit den Möglichkeiten der Erfahrbarkeit und der Dialogizität des kontextuellen Rahmens: des institutionellen Raumes, des künstlerischen Raumes und des Handlungsraumes für Künstler[*innen] und Partizipierende/Besucher[*innen].“ [20] Das Zusammenspiel dieser komplexen Komponenten wurde in dieser Zeit immer bewusster gemacht und fand Einzug in den Diskurs der zeitgenössischen Kunst. Bis heute prägen diese Gedanken das Ausstellungmachen.

Die immer globaler werdende Kunstwelt verlangte den Institutionen eine größere Sichtbarkeit ab, ermöglichte dabei geografische Erweiterungen durch neue kuratorische Formate und ließ sie international agieren. Stefan Kalmár (Direktor 2004-09) ermöglichte dem Kunstverein mit der Etablierung des Projektraums Ludlow 38, der 2008 zusammen mit dem Goethe Institut unter Leitung von Stephan Wackwitz ins Leben gerufen wurde, eine größere Internationalität und brachte so das Modell Kunstverein nach New York. [21] In den ersten drei Jahren bot Ludlow 38 den Institutionen Kunstverein München, European Kunsthalle und Künstlerhaus Stuttgart die Möglichkeit der einjährigen partiellen geografischen Auslagerung ihres jeweiligen Programms. Die Integration dieser Institutionen in die New Yorker Kunstszene fand zu einem Moment statt, in dem der deutschen Kunstlandschaft besondere Aufmerksamkeit in den USA geschenkt wurde; die Institutionen konnten sich in eine lebendige, aber auch geozentristische und privilegierte Kunstszene einfügen. Im Jahr 2011 wurde die Rolle des Raums neu überdacht, der von nun an bis 2019 jungen Kurator*innen ein einjähriges Residenzprogramm in der Kulturmetropole ermöglichte. Mit dem Projekt Talk/Show, das bereits 2007 in Kooperation mit tranzit [22] entstand, verortete sich das Programm des Kunstvereins sechs Wochen lang vollständig in Bratislava. Dorthin wurden 16 internationale Künstler*innen und Kulturschaffende für einen Vortrag an die Akademie der bildenden Künste und Design, Bratislava eingeladen. Zusätzlich wurde in einem Workshop eine Ausstellung erarbeitet, die aus Werken bestand, welche die Vortragenden beisteuerten. Zusammen erforschten die Teilnehmer*innen, die in unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen arbeiteten, kulturelle Verhandlungsräume abseits ökonomisierter Institutionen. Ausgehend von der urbanen Situation in Bratislava, suchte man nach Gemeinsamkeiten mit anderen westlicheren, europäischen Städten, die in dieser Zeit von wachsender Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung von öffentlichen und diskursiven Räumen betroffen waren. Beide Beispiele formulieren eine Loslösung von der festgelegten Architektur des Kunstvereins und denken die Institution auch als standortunabhängigen Raum. Dieses Projekt lässt nachvollziehen, wie sich Institutionen der neuen Möglichkeit einer größeren Reichweite bewusst wurden, sich dadurch neu ausrichteten und sich ungewohnten Anforderungen und Verantwortungen stellten, die nicht nur über die programmatische Ausrichtung ablesbar wurden, sondern sich auch durch eine neue Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit äußerten.

Fast gegensätzlich dazu erscheint das Schaufenster am Hofgarten. Hier trifft das Innen der Architektur auf seine unmittelbare Umgebung, sei es die zentrale Lage im Stadtkern oder die unmittelbare künstlich hergestellte Natur des Hofgartens sowie die Interaktion mit Passant*innen. Die lokale Gebundenheit spiegelt sich wie nirgendwo sonst an diesem Ort wider. Dennoch entsagt er sich auf spannende Weise der institutionellen Begrenzung und wurde zu einem Ausstellungraum, der unabhängig von Öffnungszeiten und Eintrittskarten jederzeit einsehbar ist. Mit Ausnahmen vereinzelter Projekte wie das bereits genannte von Borland, blieb das Schaufenster bis 2015 ein eher sporadisch genutzter Ausstellungsraum. Die Projektreihe The Local Contemporary, die in München arbeitende Designer*innen und Fotograf*innen wie Fritz Beck, Jonathan Mauloubier und Charlotte Talbot einlud, sah dessen Potenzial vor allem aufbauend auf dem Begriff des Flâneurs/ der Flâneuse [23], was durch die mit dem Schaufenster interagierenden Installation Replica der Designer*innen Ayzit Bostan und Gerhardt Kellermann verstärkt wurde. Darin wurden nach Vorbild des venezianischen Markusplatz die Bögen des nördlichen Arkadengangs mit Vorhängen versehen.

Diese bis dato noch ungewohnte Ausstellungsfläche wurde schließlich ab 2015 unter der Leitung von Chris Fitzpatrick (Direktor 2015-19) als im Verhältnis zu den Räumen im ersten Obergeschoss gleichwertiger Präsentationsraum für Ausstellungen gedacht und wird seither kontinuierlich bespielt. Ausstellungen, wie die von Jochen Lempert oder Juha Peka Matias Laakkonen reflektierten die Künstlichkeit der umliegenden Natur. Die einjährige Ausstellungsreihe Theatre of Measurements zeigte 2017 künstlerische Positionen, deren Werke nebeneinander und aufeinander aufbauend präsentiert wurden. Diese beschäftigten sich thematisch mit der Interaktion von Messinstrument sowie dem zu messenden Gegenstand und wurden in eine Szenografie des Künstlers Jonas von Ostrowski eingebettet, welche einen Zusammenhang mit architektonischen und gestalterischen Elementen des Hofgartens herstellte und die unmittelbare Umgebung bewusst machte. Unabhängig von dieser einjährigen Serie blieb das Schaufenster am Hofgarten bis 2019 Präsentationsfläche für Einzelpositionen oder war verbunden mit umfangreicheren Ausstellungen und Projekten, die sich über mehrere Räume des Kunstvereins ausbreiteten, darunter Lydia Ourahmane, Brud, Habima Fuchs und Radio80000. Ein Großteil der im Schaufenster gezeigten Arbeiten waren Neuproduktionen der Künstler*innen. Aktuell wird hier unter dem Titel Schaufenster eine Onsite- und Online-Serie präsentiert, welche die beiden permanent zugänglichen Räume der Institution miteinander verknüpft – das Schaufenster am Hofgarten und die Webseite. Damit artikuliert das Format neben der Möglichkeit, es weiterhin am Standort der Institution einsehen zu können, auch eine Unabhängigkeit von institutioneller Gebundenheit und öffnet sich zudem der*m nicht physischen Besucher*in.

Verstärkt arbeitete das kuratorische Team [24] unter Chris Fitzpatrick an der Enthierarchisierung der Ausstellungsräume- und -formate, nutzte wieder verstärkt das Foyer als Raum für Ausstellungen und veränderte dabei auch die Architektur, um neue Räume zu schaffen. Künstlerische Arbeiten wie Adult/Female von Nina Beier oder Insuline von Erik Thys, drangen in diesen Jahren parasitär in ungewöhnliche Räume, wie beispielsweise den Kühlschrank oder den Anrufbeantworter vor. Die Etablierung des Kinos in einem der Ausstellungsräume in der ersten Etage ermöglichte neben einem Fokus auf Bewegtbild zudem Kooperationen mit lokalen Kulturprogrammen, wie beispielsweise dem Dok.Fest, dem Queer Filmfest oder dem Literaturformat meine drei lyrischen ichs. Das Kino war darüber hinaus von 2016 bis 2019 ein lebhafter Ort für Veranstaltungen, Kooperationen und Gesprächsformate wie Symposien, Künstler*innengespräche und die alljährliche Mitgliederversammlung.

Seit 2017 wurde das Archiv verstärkt Teil der institutionellen Arbeit und ist besonders von der fundierten, wissenschaftlichen Aufarbeitung von Theresa Bauernfeind geprägt. In Hinblick auf das bevorstehende 200-jährige Jubiläum in 2023 erfährt das Archiv des Kunstverein München unter der neuen Leitung von Maurin Dietrich (Direktorin seit Juli 2019) und dem kuratorischen Team [25] gesteigerte Aufmerksamkeit. Der Kinoraum wich nun dem neuen Archivraum, der im Februar dieses Jahres eröffnete und vom Künstler Julian Göthe in Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten des Kunstvereins gestaltet wurde. Damit ist für das Archiv ein konkreter und zugänglicher Ort innerhalb der Institution geschaffen worden. Die oft unmerklich passierende Archivarbeit wird nun freigelegt und die Einsicht von Publikationen und Archivalien von 1969 bis in die Gegenwart ermöglicht. Neben mehr Sichtbarkeit wird auch der Umgang mit dem Archiv in Form von kuratorischen, künstlerischen und vermittelnden Projekten und Veranstaltungen erfahrbar werden. Damit ist hier ein Ort der Begegnung geschaffen, der sowohl räumliche als auch programmatische Verknüpfungen von Geschichte und Gegenwart zulässt und erstmals gemeinsam in Erscheinung treten lassen kann.

Die regelmäßige Umfunktionierung der Räumlichkeiten wie sie jüngst die Etablierung des Archivraums darstellt, aber auch der zu beobachtende Perspektivenwechsel auf den Standort und die Architektur des Kunstverein München, verdeutlicht seit seinem Einzug in das Gebäude am Hofgarten die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die der Architektur zugunsten kuratorischer und künstlerischer Entscheidungen abverlangt wird. Reflexionen darüber, ob und wie die Institution auch als körperloses Gefüge agieren kann und sich dabei stets auf neue Weise ihrem eigenen Handlungsraum bewusst wird, können in den hier aufgezeigten Beispielen nachempfunden werden. Dabei wird deutlich wie viele dynamische Komponenten hier zusammenspielen, welche die festgelegte Architektur kontinuierlich durchdringen und neu bewerten, und sie damit auch aus ihrer Autorität und den damit einhergehenden Hierarchien zu befreien vermögen. Die große Aufmerksamkeit für zeitgenössische Kunst sowie die wachsende globale Vernetzung erforderte und ermöglichte die Dezentralisierung der Institutionen und vergrößerte so ihren Handlungsraum und damit ihre Sichtbarkeit, was wiederum mehr Verantwortung und Weitsicht erforderte. Die Auseinandersetzung mit der städtischen Einbettung floss trotz der vermehrten Versuche, das Programm der Institution von seinem konkreten Standort zu lösen, unaufhörlich in die kuratorischen und künstlerischen Überlegungen ein, und bildet darüber hinaus oft den Ausgangspunkt für institutionelle Programmatiken, die immer auch mit aktuellen Diskursen einhergehen.

Text: Christina Maria Ruederer
Recherche: Christina Maria Ruederer
Übersetzung, Lektorat: Adrian Djukic, Gloria Hasnay und Christina Maria Ruederer

Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie uns gerne über archiv@kunstverein-muenchen.de.

[1] Darin eingeschlossen sind auch kuratorische Formate, die nicht nur von Kurator\*innen geschaffen wurden, sondern auch von Künstler\*innen und weiteren Kulturschaffenden.
[2] Kuhn, Matthias: Wir sind kein Parkhaus für Objekte. Der Kunstverein wird 180 – Zeit, für einen längst fälligen Besuch, in: go 6 (2003), S. 80.
[3] Das kuratorische Team unter Maria Lind bestand aus Ana Paula Cohen (2003), Søren Grammel (2002-04), Julienne Lorz (2004), Tessa Praun (2003) Katharina Schlieben (2002-03) und Judith Schwarzbart (2003-04).
[4] Grammel, Søren: Eintritt. Zum Umbau des Foyers, in: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004, S. 28-31, hier S. 28.
[5] Schlieben, Katharina: Wohin die Reise geht..., in: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004, S. 24–27, hier: S. 24.
[6] Grammel 2004, S. 30.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Webseite der Künstlerin Apolonija Šušteršičs, https://apolonijasustersic.com/about/publications/ [30. 3. 2020]
[10] Grammel 2004, S. 31.
[11] Die sorgfältige Dokumentation der Projekte und der kuratorischen Arbeit, die ihre eigene Transparenz anstrebte, lässt auch Einblicke in unrealisierte Projekte und Ausstellungen zu, wodurch der größere Zusammenhang erkennbar wird. Vgl. dazu: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004.
[12] Grammel 2004, S. 31.
[13] Vgl. dazu: Lind, Maria: Ausdehnung in der Zeit. Eine Retrospektive mit Christine Borland, April 2002 – April 2003, in: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004, S. 90-96 und 114-127, hier: S. 115.
[14] Die Installation Inside Pocket [Innentasche] nutzte zwei der Schaufenster als Ausstellungsfläche, darunter das seit 2015 durchgehend für Ausstellungen genutzte Schaufenster am Hofgarten sowie das benachbarte Fenster des Büroraums im Erdgeschoss. [15] Lind 2004, S. 90.
[16] Webseite der Künstlerin Carey Young: http://www.careyyoung.com/philippe-parreno- carey-young [12.04.2020]
[17] Lind, Maria: Alles von Innen, in: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004, S. 33–34, hier: S. 33.
[18] Schlieben, Katharina: Ausstellungsraum Per-form: Grenzfall, in: Lind, Maria; Grammel, Søren; Lorz, Julienne u.a. (Hrsg.): Spring Fall 02 04. Gesammelte Drucksachen Collected Newsletters, Kunstverein München, München 2004, S. 161-163, hier: S. 161.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Vgl. dazu: Maier, Tobi; Lotz, Antonia; Kalmár, Stefan u.a. (Hrsg.): The first 3 years of Ludlow 38, Leipzig/New York, 2011.
[22] tranzit ist ein Netzwerk von Bürger\*innenvereinigungen, die unabhängig voneinander im Bereich der zeitgenössischen Kunst in Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowakei, Rumänien und über die Grenzen eines größeren Europas hinweg arbeiten. Hauptziel ist es, emanzipatorische Praktiken zu unterstützen und zu artikulieren, Verbindungen zwischen Kultur und Gesellschaft herzustellen, indem es sich über Geographien, Generationen und politische Bereiche hinwegbewegt. Vgl. dazu: Webseite von tranzit, https://www.tranzit.org [20.4.2020]
[23] Flâneur / Flâneuse: aus dem Französischen von flâner, zu deutsch schlendern, flanieren, umhertrödeln, meint den/die männlichen/weibliche Stadtspaziergänger\*in, Schlenderer, Tagedieb*in, aber auch Faulenzer\*in. Der lange Zeit ausschließlich männliche Flâneur ist eine literarische Figur aus dem 19. Jahrhundert, die besonders im Werk des Dichters Charles Baudelaire (1821-68) präsent ist und den damaligen Zeitgeist des Urbanismus und der Moderne nachempfinden lässt. Bei Baudelaire ist dieser als umherziehender, dandyhafter Künstler charakterisiert, der im Vorübergehen Entdeckungen macht und dabei die Gesellschaft reflektiert. Auch Walter Benjamin (1892-1940) griff den Begriff auf und sah in ihm mehr den städtischen Beobachter, Voyeur, Melancholiker und Verdächtigen zugleich, der die Geheimnisse und verborgenen Charakteristiken der modernen Gesellschaft entschlüsselt. Der Begriff des Flâneurs sah weit bis ins 20. Jahrhundert keine weibliche Form vor. Im Werk Baudelaires ist als weibliche Stadtteilnehmerin nur die Passante zu finden, die Vorübergehende, was allerdings in diesem zeitlichen Kontext als Sexarbeiterin oder Bedienstete zu verstehen ist und keinesfalls das Pendant zur Figur des Flâneurs darstellte. Erst im 20. Jahrhundert wurde auch die Frau zur Teilnehmerin und Beobachterin des urbanen Lebens, man denke bspw. an Virginia Woolf. Ab den 2000er Jahren setzte sich langsam die gängige Bezeichnung Flâneuse durch.
[24] Das kuratorische Team unter der Leitung von Chris Fitzpatrick bestand aus Post Brothers (2016-19), Sarah Donderer (2016-17), Nina Gscheider (2015-16) und Christina Maria Ruederer (seit 2017).
[25] Unter der Leitung von Maurin Dietrich ist das kuratorische Büro mit Gloria Hasnay (seit 2019), Christina Maria Ruederer (bis 2020) und Gina Merz (seit 2020) besetzt.

Abb.:
Installationsansicht von Heimo Zobernig im Kunstverein München e.V., 1999. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Wilfried Petzi (links) / Installationsansicht von Eintritt von Apolonija Šušteršič im Kunstverein München e.V., 2002. Courtesy Kunstverein München e.V. (rechts).

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