Archiv Newsletter 6.1

Februar 2019

In der Ausstellung Die Utopie des Designs, welche vom 11. März bis zum 24. April 1994 in den Räumen des Kunstverein München zu sehen war, lag der Fokus auf Veränderungen der Alltagswelt in den 1960er und 1970er Jahren, die auch das soziale Feld der Kunst grundlegend verändert haben.

Die Ausstellung wurde von Helmut Draxler konzipiert und mit einer Gruppe von Studierenden der Kunstakademie entwickelt, darunter Amelie von Wulffen, Thomas Eggerer, Jochen Klein, Florian Hüttner, Undine Golberg und Josef Kramhöller.
Das Ziel der AusstellungsmacherInnen war es, eine historisch übergreifende Interpretation darzustellen, die lokale Strukturen als Phänomene globaler Veränderungen auffasst und in den interdisziplinären Kontext von Design, Architektur, Urbanistik und Kunst einbindet.

Der Begriff der Utopie

Anfang der 1990er Jahre schien der Begriff der "Utopie", der die Ausstellung betitelt, aufgrund massiver politischer Veränderungen und einer „Realpolitik“ wieder in den Fokus des Interesses zu rücken.
Die Ausstellung widmete sich dem Utopiebegriff, der in verschiedenen Ansätzen in Design, Kunst, Architektur und Urbanistik in den 1960er und 1970er Jahren zum Tragen kam.
Sie gliederte sich in abstrakte Utopien der 1960er Jahre hin zu konkreten Realisierungen der frühen 1970er Jahre und schließlich vom erweiterten Design zur ausdifferenzierten Corporate Identity.
Die Utopien jener Zeit waren meist urbane, die sich aus technologischen und sozialen Utopien zusammensetzten. Voraussetzung dieser war allerdings kein wirtschaftlicher Niedergang, sondern eine wirtschaftspolitisch abgesicherte Hochkonjunktur. Diese war neben technologischen und konstruktiven Neuerungen dafür verantwortlich, dass nicht Utopien der Hoffnung erdacht wurden, sondern Utopien des in naher Zukunft Machbaren. Damit einher gingen politische Bewegungen, die diese Umsetzbarkeit oft mit sozialen Veränderungen gleichsetzten.
Das Design wurde nun dafür verantwortlich gemacht, soziale Veränderungen mitzugestalten. Gleichzeitig sollte es zu deren Kontrolle und Einpassung herhalten. Bereits hier zeigt sich das Konfliktpotenzial, welches auch Hauptthema der Ausstellung werden sollte.
„Die Utopie des Designs, die italienische, britische, skandinavische und österreichische Designer der 60er Jahre in ihrer Abkehr von den rigoros funktionalistischen Idealen der Zeit davor (mit der HfG in Ulm als ihrem theoretischen Zentrum) schufen, meint nicht nur das utopische Design als gattungsspezifische Kategorie, sondern das Design, welches Utopien im allgemeinen erhalten, wenn diese visualisiert und schließlich konkretisiert werden.“ [1]

Wohndesign

Die Utopien der 1960er Jahre wurden mit der Gründung der Architektengruppe Archigram (1961), den Arbeiten von Hans Hollein und Raimund Abraham sowie u.a. den japanischen Metabolisten eingeläutet.
Hervorgebracht wurden sie meist von Kollektiven, die in den Diskurs der Technik, der neuen Kunststoffmaterialien und in neue Marketingstrategien eingebunden waren.
Es zeigt sich eine Abkehr vom klassischen Objekt hin zur Gestaltung von Situationen, die Wohnlandschaften genannt wurden, als auch eine enge Verbindung mit Architektur und Urbanisitik. Die gesamte Lebenswelt sollte neu gestaltet werden. Die Entwicklung bei Superstudio vom „Evasion Design“ [2] (1968) über „Radical Architecture“ [3] (1970) zur Gruppe „Global Tools“ [4] (1973) ist deshalb keine zufällige.
Spätestens seit der ersten „Visiona“ [5] zur Kölner Möbelmesse 1968 war eine neue Auffassung von Design gesellschaftsfähig geworden. Bei Joe Colombo (1930 – 1971) und Verner Panton (1926 – 1998) ist die enge Verbindung von Designutopie und technisch-ökonomischer Neuerungen (Kunststoff) nicht zu übersehen. Im 1.OG des Kunstvereins waren Pantons Wohnlandschaften ebenso ausgestellt wie Sitzmöbel von Colombo, entworfen von 1967 bis 1969, als auch Sitzgruppen von Superstudio und Archizoom.
Bei vielen architektonischen Utopien ging mit der Faszination an Technologien eine konservative Haltung zum traditionellen Familienbild einher. Die Offenheit des situativen Designs bei den Möbeln kann oftmals ebenso als soziale Konditionierung angesehen werden. In vielen Entwürfen Luigi Colanis (geb. 1928) zeigt sich beispielsweise eindeutiger Sexismus.

Architektur

Besonders der urbane Raum wurde in jener Zeit zum Streitfall.
Die architektonischen Formen der Utopien der 1960er Jahre hatten eine strukturelle Logik zur Grundlage, die bereits 1907 von Alexander Graham Bell (1847 – 1922) mit dessen Tetraeder-Konstruktionssystem eingeläutet wurde, später folgten Buckminster Fullers (1895 – 1983) geodätische Kuppeln [6].
Ab den 1950er Jahren entstanden schließlich die sogenannten „megastructures“ [7]; netzartige, flexible Systeme, mit welchen auch große Distanzen überbaut werden konnten. Die Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr im Städtebau schien einer jüngeren Generation von ArchitektInnen die Wurzel allen städtebaulichen Übels, welche mit den Megastrukturen überwunden werden sollte. Neben Archigram, Constant Nieuwenhuys (1920 – 2005) und Yona Friedman (geb. 1923) antworten u.a. auch die radikalen Florentiner Gruppen Superstudio und Archizoom Ende der 1960er Jahre mit ihren Entwürfen ironisierend auf die Megastrukturalisten. In der Ausstellung Die Utopie des Designs wurden diverse Architekturutopien anhand von Zeichnungen, Fotografien und Modellen veranschaulicht.
Günther Domenigs (1934 – 2012) und Eilfried Huths (geb.1930) Entwurf einer Megastruktur für die Stadt Ragnitz von 1963 war in der Ausstellung ebenfalls als Modell zu sehen.
Die zellenartigen Einheiten, welche in der Architektur an Bedeutung gewannen, wurden angeregt durch die ersten Weltraumfahrten auch für DesignerInnen immer wichtiger. Kapselartige Wohneinheiten entwarfen beispielsweise Verner Panton, Joe Colombo und Marco Zanuso (1916 – 2001). Die Ausstellung zeigte außerdem die Experimentalküche der Firma Poggenpohl, entworfen von Luigi Colani, 1970. Interessant hierbei ist der soziale Aspekt dieser „living units“. Gerade durch die Begrenzung des Wohnraums sollte der individuelle Freiraum erhöht werden. Gleichzeitig sollte dieser Freiraum durch Megastrukturen in Architektur und Städtebau wieder der Kontrolle unterworfen werden. Die Gründe hierfür liegen auch in einer versuchten Antwort auf wachsende Bevölkerungszahlen und Umweltzerstörungen.

Niedergang

Als Kernfrage kristallisierte sich im Laufe des Ausstellungsprojekts mehr und mehr heraus, wie eine kulturelle Produktion von Utopien mit wirtschaftlichen Prozessen in Beziehung gesetzt werden kann.
Dabei wurde versucht, Widersprüche aufzuzeigen, die im Wechselspiel zwischen den bewussten Bezugnahmen vom kulturellen Feld auf das ökonomische und den unbewussten Einflüssen in umgekehrter Richtung liegen. [8]
Zwischen den Vorstellungen der Freiheit von Repression (vgl. das Hippieleben bei Superstudio) und denen der Bereinigung von Reibungswiderständen für das Wirtschaftssystem lag ein solches Konfliktpotenzial, dass die Konzeptionen letztlich zum Scheitern verurteilt waren.
Mit der Öko- und Ölkrise 1973 war das Ende der Utopieproduktionen unmittelbar eingeläutet. Auch die Auflösung des Bretton-Woods-Abkommens, sprich die Freigabe der festen Wechselkurse im Frühjahr 1973, trug dazu bei.

Sozialer Faktor und Diskurs

Betrachtet man die diversen Utopieentwürfe jener Jahre, so kommt man auch um Debatten und den Begriff des (sozialen) Raumes nicht herum, welche Pierre Bourdieu (1930 – 2002) oder Henri Lefebvre (1901 – 1991) prägten, die den Raum als gesellschaftliches Produkt verstehen – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Hier zeigen sich auch inhaltliche Überschneidungen zu Protestbewegungen seit den 1960er Jahren. Die gesellschaftliche Funktion dieser Utopien lag darin, den technologischen und teilweise auch sozialen Fortschritt voranzutreiben, diesen teilweise sogar ersetzen zu wollen.
Die Ausstellung Die Utopie des Designs kann bis zu ihrem Ausstellungsdatum Mitte der 1990er Jahre als eine der wenigen Ausstellungen in der Geschichte des Kunstverein München angesehen werden, welche sich gezielt mit Design auseinandersetzte. Damit wurde unmittelbar auch die Frage des Verhältnisses von Kunst und Design aufgeworfen. Diese Grundfrage der Geschichte der Moderne, die oftmals in eine strikte Trennung beider Bereiche oder Aufhebung der Grenzen gipfelte, wurde Anknüpfungspunkt vieler TheoretikerInnen [9] und KünstlerInnen, und scheint gerade im heutigen Kunstdiskurs aktueller denn je.
Das Münchner Olympiagelände von 1972 markierte in der Ausstellung schließlich den Höhepunkt des utopischen Designs. Hier wurden auch die Weichen in die Zukunft des kommunikativen und korporativen Designs gestellt. Diese lokalen Strukturen, die sinnbildlich für globale Veränderungen stehen, möchten wir Ihnen im nächsten Newsletter genauer vorstellen.

Text: Theresa Bauernfeind
Recherche: Theresa Bauernfeind
Übersetzung, Lektorat: Theresa Bauernfeind, Post Brothers und Christina Maria Ruederer

Bei Fragen und Anregungen kontaktieren Sie uns gerne über archiv@kunstverein-muenchen.de.

[1] Helmut Draxler: Die Utopie des Designs. Ein archäologischer Führer für alle, die nicht dabei waren. In: Auss.Kat. Die Utopie des Designs, Kunstverein München e.V., 1994.
[2] „Evasion design, punning and easy overtones of political disengagement apart, is the activity of planning and operating in the field of industrial production assuming poetry and the irrational as its method, and trying to institutionalize continuous evasion of everyday dreariness created by the equivocations of rationalsm and functionality. Every object has a practical function and a contemplative one: and it is the latter that evasion design is seeking to potentiate.“ (J. Ockman: Superstudio. Invention Design and Evasion Design, In: Architecture Culture 1943- 1968. NY: Rizzoli, 1993, S. 438.)
[3] Eine Gruppe italienischer ArchitektInnen und DesignerInnen, die von Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre tätig waren. Sie stellten sich dem Rationalismus und Funktionalismus der Moderne des 20. Jahrhunderts entgegen.
[4] Im Januar 1973 fand in Mailand in der Redaktion der Zeitschrift Casabella ein Treffen statt, an dem unter anderem die ArchitektInnen und DesignerInnen Ettore Sottsass Jr., Alessandro Mendini, Andrea Branzi, Riccardo Dalisi, Remo Buti, Ugo La Pietra, Franco Raggi, Davide Mosconi und Mitglieder der Gruppen Archizoom, 9999, Superstudio, UFO und Zziggurat teilnahmen. Zusammen mit den Konzeptkünstlern und Intellektuellen Franco Vaccari, Giuseppe Chiari, Luciano Fabro und Germano Celant gründeten sie Global Tools - ein System von Workshops, die bis 1975 stattfinden sollten.
[5] Von 1968 bis 1972 mietete der Chemiekonzern Bayer jeweils während der Kölner Möbelmesse ein Ausflugsschiff, welches von bekannten DesignerInnen in einen temporären Ausstellungsraum zum Thema »Wohnen heute« umgewandelt wurde. Vorgestellt wurden hier die neuesten Entwicklungen im Textilsektor, wobei auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Darstellung verschiedener Warengruppen und der Selbstdarstellung der verarbeitenden Betriebe geachtet wurde.
[6] Diese geodätische Kuppel wurde erstmals 1948 im Projektstudium am Black Mountain College zusammen mit Josef Albers erbaut.
[7] Zentral war der Gedanke einer Rahmenstruktur, die sich über bestehende Städte legt. Wesentlich für die Megastruktur ist die Trennung des konstruktiven Gerüsts, das die gesamte städtische Infrastruktur wie Energie- und Wasserversorgung und Transport enthält, von den Wohneinheiten, die nach je nach Bedarf in die Trägerstruktur ein- und wieder ausgeklinkt werden können. Diese Trennung sollte es ermöglichen, die Stadt den individuellen Wünschen der BewohnerInnen wie auch den sich wandelnden sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Megastrukturen sind auch als ein früher Ausdruck einer vernetzt gedachten Welt zu verstehen, sie standen für Fortschrittsglaube und Aufbruchsstimmung, die Trennung von Tragwerk und Nutzung für Technikbegeisterung und Serienproduktion. Zu den Megastrukturalisten zählt neben Constant, Friedman, Archigram, Archizoom und Superstudio der englische Architekt Cedric Price, die japanischen Metabolisten, aber auch Architekten wie Frei Otto. Im Herbst 1964 erschien in London die fünfte Ausgabe des Magazins Archigram mit dem Schwerpunktthema Metropolis. Unter dem Titel „Within the big structure“ wurden dort neben dem Archigram-Entwurf Plug-in City auch die Stadtvisionen New Babylon von Constant Nieuwenhuys und La Ville spatiale von Yona Friedman vorgestellt.
Spätestens seit Rem Koolhaas’ Metabolism Talks sind Megastrukturen wieder auf die Tagesordnung des aktuellen Architekturdiskurses gerückt.
[8] These von Helmut Draxler (vgl. Ders.: Die Utopie des Designs. Ein archäologischer Führer für alle, die nicht dabei waren. In: Auss.Kat. Die Utopie des Designs, Kunstverein München e.V., 1994): Die Design-Auffassungen der frühen Moderne zeigen einen gemeinsamen Problemhorizont in der Reform der von der Bewegung des Kapitals diktierten Verhältnisse an (z.B. der Versuch, die soziale Krise mithilfe von Architektur zu bewältigen). Alle diese Ansätze verloren an Bedeutung, als sich das Kapital Ende der 1930er Jahre selbst zu reformieren begann (vgl. John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest, and Money, 1936) und eine keynesianische Wirtschaftspolitik in Westeuropa und Amerika die Aufgaben eines ökonomischen und sozialen Krisenmanagements übernahm (z.B: Roosevelts New Deal).
Wenn eine an Keynes orientierte Wirtschaftspolitik die Voraussetzungen urbaner Utopien untergrub, wie konnte dieselbe Politik den ökonomischen Hintergrund für eben diese Art von Utopie 30 Jahre später abgeben?
[9] Vgl. Adolf Loos, Clement Greenberg u.a.

Abb.:

  1. Die Utopie des Designs, 1994. Installationsansicht Kunstverein München e.V., 1994. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Wilfried Petzi
  2. Die Utopie des Designs, 1994. Installationsansicht Kunstverein München e.V., 1994. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Wilfried Petzi: Günther Domenig und Eilfried Huth, Entwurf einer Megastruktur für die Stadt Ragnitz, 1963.
  3. Die Utopie des Designs, 1994. Installationsansicht Kunstverein München e.V., 1994. Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Wilfried Petzi: Luigi Colani, Experimentalküche für Poggenpohl, 1970.
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