Archiv Newsletter No. 12
Januar 2024
Die Erscheinung von Judith Butlers Buch Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity 1990 kann rückblickend als ein Generationswechsel im feministischen Diskurs beschrieben werden: Während vorherige Theorieansätze etwa die historische Kontingenz vorhandener Frauenbilder betonten, stellte Judith Butler die Konstruiertheit und Performativität von Geschlecht ins Zentrum. Zeitgleich setzte die Forscherin Donna Haraway dem naturwissenschaftlichen Objektivitätsanspruch ihr feministisches Konzept des situierten Wissens entgegen, während eine Reihe von queeren Künstler*innen den heterosexuellen Gesellschaftsvertrag in Frage stellten. Die Gruppenausstellung Oh boy, it’s a girl! am Kunstverein München von 1994 spiegelt diesen lebendigen Aushandlungsprozess wider und vereinte Arbeiten von über dreißig Künstler*innen, die die binären Unterteilungslogiken von Geschlecht zur Disposition stellten. In diesem Gastbeitrag des Archivnewsletters beschreibt Hedwig Saxenhuber, Kuratorin am Kunstverein von 1992 bis 1995 und gemeinsam mit Astrid Wege verantwortlich für die Ausstellung, den herrschenden Zeitgeist, die Reaktion in der Presse und das Nachwirken des Projektes.
Oh boy, it’s a girl!
von Hedwig Saxenhuber
„Home for me right now is still a home in which community is a vibrant part of my being, and that history will carry me through that in the same way that this self-portrait has carried me through 30 years and continuing to make art.“ (Catherine Opie, Leslie Lohman Museum of Art, Pressemail vom 3.10.2023)
Welche Koinzidenz! Vor fast drei Jahrzehnten wurden im Kunstverein München die (Selbst-)Portraits von Catherine Opie und ihren queeren Freund*innen aus der Leder-Dyke-Community aus Los Angeles in Oh boy, it’s a girl! gezeigt. „Es war die Zeit, in der AIDS viele Leute in ihren 20ern und 30ern dahingerafft hatte. Opies Fotografien waren ein starkes politisches Statement in der Ära des Konservativismus und der Homophobie. Die Darstellung ihrer queeren Freund*innen war so neu, in Diversität und sublimer Schönheit schuf Opie einen Raum, in dem sich die ‚queeren und transsexuellen Körper mit anderen zu Hause‘ fühlen konnten“.
Die Anfrage an mich als ehemalige Kuratorin des Kunstvereins für den Archivnewsletter zu schreiben, freute mich, irritierte mich aber auch. Wie verhalte ich mich zu einem Archiv, zu welchem ich selbst beigetragen habe? Wie positioniere ich mich als Kuratorin und Kritikerin zu meiner eigenen Geschichte und zu einer Ausstellung über Kunst, die in der feministischen Geschichtsschreibung ihren Platz gefunden hat. Durch die digitale Aufarbeitung des Programms des Kunstvereins für das Archiv (und für den Präsenzbestand ab 1969) anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Institution hat sich mittlerweile der zentrale Ort gefunden – das Internet. Es war damals noch jung und verschafft uns nun eine neuerliche Sichtbarkeit und Existenz für unsere Projekte.
Oh boy, it’s a girl! lautete der Titel der Ausstellung von 1994, der auf Vorschlag der Künstlerin und Grafikdesignerin Dorit Margreiter als Rückgriff auf eine Arbeit von William Wegman zustande kam. Diese Ausstellung operierte an der Schnittstelle von Feminismus und Kunst der 1960er und 1970er Jahre – mit ikonischen Arbeiten von u. a. Carolee Schneeman, VALIE EXPORT und Gina Pane – und zeigte auch Beispiele von Arbeiten mit parodistischen Impulsen der aufkommenden queeren Identitätspolitiken. Dass in Oh boy, it’s a girl! nach „Vorbild angloamerikanischer Gender-Theorien, Fragen nach aktuellen Feminismen, Geschlechterpolitiken und entsprechenden Kunstpraktiken gestellt wurden“ [1], betraf nur einen Teil der Ausstellung. Zwar nahmen die teilweise widerstreitenden, einander ablösenden Feminismen in ihr einen breiten Raum ein. Doch es wurde anhand eines Rückblicks auch die Zäsur in der deutschen Schwulenbewegung thematisiert – etwa anhand der Arbeiten von Thomas Eggerer / Jochen Klein oder Jürgen Baldiga. Debatten über Maskulinität, die eine Dezentrierung von Männlichkeit anstrebten, standen so neben Arbeiten, welche die Geschlechterfrage als „Dispositive der Macht“, eingebettet in Strukturen des „weißen“ Rassismus zum Inhalt hatten (Nicole Eisenman).
Die persönlichen Begegnungen mit VALIE EXPORT [2], ihre erste Museumsausstellung 1992 im Linzer Landesmuseum, ihre Filme und die Ausstellung Kunst mit Eigensinn 1985, die sie im Museum moderner Kunst / Museum des 20. Jahrhunderts (heute mumok) initiiert hatte, sowie das begleitende Symposium Weibliche Ästhetik: Fiktion, Idee oder realistisches Projekt hatten einen prägenden Einfluss auf meine Generation in der Wiener Film- und Kunstszene. VALIE EXPORT hatte in ihren Arbeiten bereits sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass „Weiblichkeiten“ konstruierte, künstliche bzw. falsche seien. „Weiblichkeit ist nicht darstellbar.“ Waren in den 1970er Jahren die Solidarität [3] und die Selbsterfahrung in Gruppen wesentliche Impulse für die Bewegung des Feminismus, begann sich in den 1980er Jahren die Differenz auf „Frauen“ zwischen den Frauen und unter den Frauen zu verlagern. Eine provokante These von Monique Wittig lautete „lesbische Frauen sind keine Frauen“.
Großen Einfluss hatte die Lektüre von Teresa de Lauretis Technologies of Gender (1987) und Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities (1991) sowie Donna Haraways A Manifesto for Cyborgs (1985). Prägend waren auch Filmvorführungen von Yvonne Rainer, die eine unserer ersten Programmpunkte im Kunstverein München waren – mit anschließenden Diskussionen, inklusive der Herausgabe der deutschen Übersetzung des Buches Talking Pictures. Filme, Feminismus, Psychoanalyse, Avantgarde, das außergewöhnliche Werk von Adrian Piper und die häufige Anwesenheit von Andrea Fraser in München. Das alles zusammen eröffnete einen unendlichen Kosmos, der mich bestärkte, an der feministischen Materie dranzubleiben. Mit Unbehagen der Geschlechter (1991) hatte Judith Butler einen großen Echoraum an Darstellungsmöglichkeiten geschaffen. Geschlechtliche Identitäten seien permanente Nachahmungen, Kopien eines nicht vorhandenen Originals. Mit ihren Polarisierungen schuf Butler Entrüstung und Euphorie, einen lustvollen Verrat am Feminismus. Mit Humor und in einer subversiven Sprache wurden diese Geschlechterverwirrungen in Bild, Skulptur, Fotografie und Film umgesetzt und hatten zur Folge, dass das Motiv des Entschwindens und der Non-Binarität in der Ausstellung über verschiedene Bewegungen als Symptom nachvollziehbar war (durch die Arbeiten von G.B. Jones, Alix Lambert, Nicole Eisenman, Chuck Nanney, Catherine Opie, Jürgen Klauke oder Elke Krystufek).
Oh boy, it’s a girl! beschäftigte sich also nicht nur mit „Feminismen in der Kunst“, sondern auch mit einem „Feminismus ohne Frauen“ (Leo Bersani), der durch Gender-Travestien, Schwulenpolitik und die Dekonstruktion normativer Strukturen des Begehrens in ein neues Licht gerückt wurde. Das war wiederum der Anlass für die 13 Jahre später stattfindende Ausstellung Oh Girl, It’s a Boy! im Münchner Kunstverein [4] – eine Referenz auf die eingangs genannte, um die zentralen Aspekte der damals zugrundeliegenden Debatten über „Geschlechterpolitik“ und „Gender Studies“ zu überdenken, zu hinterfragen und neu zu bewerten angesichts einer sich verändernden politischen Gegenwart.
Die mediale Reaktion 1994 auf Oh boy, it’s a girl! war unterschiedlich: Von konservativer männlicher Kunstkritik kam Lob an der „antiaktivistischen“ Qualität der Ausstellung; von progressiv linker männlicher Linie wurde bemängelt, dass Oh boy, it’s a girl! „keine feministische Ausstellung sei, weil sie keine gesellschaftliche Perspektive formuliert hatte“. Von einer der lokalen Münchner Zeitungen hieß es: „Nur Barbie Puppen Menschen“; „Verstaubte Exposition, weder originell noch präzise noch optisch beeindruckend, unbefriedigend“. Vom lokalen Rundfunk kam harsche Kritik: „Krudes Durcheinander!“ „Die Auswahl hätte strenger und schärfer sein müssen“. Während eine überregionale Tageszeitung voll des Lobes war: „Mit Bravour gelungen. Sprengt den Rahmen (diskursive Zugänglichkeit und Einbettung statt Spezialist*innenjargon). Exemplarisch. Unprätentiös. Überzeugung der Schlüssigkeit und Notwendigkeit des Diskurses, den die Ausstellung forciert. Einbettung in Zeitphänomene. Klug angelegt“.
Warum ist Feminismus plötzlich so sexy? [5] Diese Frage stellte sich die Kunsthistorikerin Bojana Pejic 2008 in einem Artikel in der springerin, wobei sie mit einem Zitat von Charles Esche begann. Esche monierte „[…] Der gegenwärtige Trend in der Kunstwelt, sich des ersten Feminismus zu erinnern und ihn sogar nachzuahmen ist erfreulich. Trotzdem muss man es fast als tragisch bezeichnen, dass es bis heute gedauert hat, um sich einer Sache zu erinnern, die wir vor mehr als 20 Jahren absichtlich vergessen haben.“ Man ist geneigt stellvertretend zu sagen: Wir aber nicht, Charles! Viele von uns haben in den 1990er Jahren daran gearbeitet und sind jetzt wieder sichtbar dank des Zugangs zum digitalen Archiv des Kunstverein München. Im Rhythmus von anderthalb Dekaden wird der Feminismus in der Kunst immer wieder neu entdeckt, jedes Mal wieder mit Euphorie und Kopfschütteln: warum erst jetzt, warum so spät, und dabei wird übersehen, dass kontinuierlich daran gearbeitet wurde und wird.
Hedwig Saxenhuber ist freischaffende Kuratorin und Mitherausgeberin von springerin – Hefte für Gegenwartskunst und lebt in Wien. Sie hat viele internationale Ausstellungen kuratiert, zuletzt die 5. Kyiv Biennale (2023).
Lektorat: Gloria Hasnay, Jonas von Lenthe
Wenn Sie Fragen zum Martina Fuchs Archiv haben, wenden Sie sich bitte an Jonas von Lenthe über archiv@kunstverein-muenchen.de.
Fußnoten
[1] springerin.at/2008/1/review/oh-girl-its-a-boy/
[2] VALIE EXPORTs Tapp und Tastkino (1968) wurde als Performance am Münchner Stachus anlässlich des 1. Internationalen Treffens der Unabhängigen Filmemacher der Welt, München aufgeführt. In: Spilt:Reality VALIE EXPORT, 1997, S. 60.
[3] Frauentreffen der deutschen Frauenemanzipationsgruppen im Kunstverein München anlässlich des ersten Protests gegen den §218 Abtreibung bundesweit, laut Aussage von Haimo Liebich. In: Maurin Dietrich, Gloria Hasnay (Hg.), FOR NOW. 200 Jahre Kunstverein München, 2023, S. 214–215.
[4] Unter der Leitung von Stefan Kalmár, der als Besucher 1994 die Ausstellung Oh boy, it’s a girl! gesehen hat, wurde das Thema 2007 aufgenommen und in der Ausstellung weitergeführt.
[5] springerin.at/2008/1/warum-ist-feminismus-pl%C3%B6tzlich-so-sexy
Abbildungen
[1] Arbeiten von Inez van Lamsweerde und Paul McCarthy in Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994; Foto: Wilfried Petzi
[2] Installationsansicht Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994; Foto: Wilfried Petzi
G.B. Jones, Tattoo Girls, 1987, Teil der Ausstellung Oh boy, it's a girl!, Kunstverein München, 1994
Alix Lambert, Male Pattern Baldness, 1993, Teil der Ausstellung Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994
[3] Installationsansicht, Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994; Foto: Wilfried Petzi
[4] Jürgen Klauke, Männerphantasien, 1978, Teil der Ausstellung Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994
[5] Ausstellungsansicht mit einer Arbeit von Christa Näher, Oh boy, it’s a girl!, Kunstverein München, 1994; Foto: Wilfried Petzi