Archiv Newsletter No. 11

April 2023

Der vorliegende Archivnewsletter richtet den Blick auf eine Veranstaltungsreihe, die unter dem Titel faschismusersatz 1993 im Kunstverein München stattfand. Drei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung setzte sich faschismusersatz innerhalb einer spezifischen Diskurslandschaft mit dem Umgang mit der Vergangenheit auseinander. Um diesen Kontext und sein Nachwirken in der Gegenwart soll es im Folgenden gehen.

WHAT’S LEFT?

Die 90er Jahre, vor allem deren erste Hälfte, stehen oft paradigmatisch für eine Tendenz im deutschsprachigen Kunstfeld, die – nicht selten von den Akteur*innen selbst – als dessen „Politisierung“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit die Annäherung der Kunst an das Praxisfeld der politischen Bewegung und ein aufkommender Anspruch vieler Künstler*innen, sich innerhalb und außerhalb des eigenen Milieus politisch zu positionieren. Diese Entwicklung fand auch am Kunstverein München statt und brachte unterschiedliche Diskurse, Methoden und Formensprachen hervor, dessen historischer Kontext als eine Zeit der Weichenstellung bezeichnet werden kann: Bestimmte ästhetische Strategien und ein neues Verständnis von Institutionskritik etablierten sich ebenso wie die Machtpositionen neuer Institutionen und Einzelpersonen, die bis heute das Gefüge des deutschsprachigen Kunstfeldes bestimmen (man denke zum Beispiel an die Berliner Kunstwerke, heute KW Institute for Contemporary Art, gegründet 1991, oder die Zeitschrift Texte zur Kunst, gegründet 1990). Im Folgenden soll es darum gehen, damals geführte Diskurse in Hinblick auf ihre Resonanz in unserer Gegenwart nachzuzeichnen.

Das Film- und Veranstaltungsprogramm faschismusersatz, von dem dieser Newsletter handelt, fand 1993, also drei Jahre nach der sogenannten deutschen Wiedervereinigung, unter anderem im Kunstverein München statt. Archiviert ist davon lediglich der Scan eines 18-seitigen Heftes mit dem Untertitel texte, filme, diskussionen zu faschismus, widerstand und postdemokratischen kontrollsystemen, der den Gegenstand meiner Untersuchungen darstellt. faschismusersatz, so berichten die Initiator*innen Stephan Gregory, Ingrid Scherf, Helmut Draxler und Katja Diefenbach 2020 in einem Interview mit Laura Ziegler, entstand als Reaktion auf die rechtsextremen Pogrome in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992) und anderen Städten in der gerade wiedervereinten Bundesrepublik: „Es war ein Versuch, die Faschismustheorie zu aktualisieren“ und „auf diese Vorfälle zu reagieren – und vielleicht auch anders zu reagieren, als man das bisher tat“.

Mit beeindruckend selbstverständlicher Interdisziplinarität suchte das Projekt „fünfzig Jahre nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus“ nach den „übriggebliebenen Bruchstücke[n] faschistoider Politik in veränderten Formen“ [1]. So finden sich in der 18-seitigen Textsammlung neben Textpassagen von Slavoj Zizek, Theodor Adorno und Max Horkheimer zu Antisemitismus auch ein Auszug aus Mike Davis‘ City of Quartz (1990), in dem der Soziologe über die architektonischen Marginalisierungen und Kontrollmechanismen benachteiligter Klassen im gegenwärtigen Stadtraum von Los Angeles schreibt. Den thematischen Übergang dazu stellt eine Passage aus Peter Reichels Der schöne Schein des dritten Reiches: Faszination und Gewalt des Faschismus (1991) zur NS-Architektur dar. Während im vorderen Teil der jüdische Widerstand gegen den Nationalsozialismus das zentrale Thema ist, widmen sich die Autor*innen auf den hinteren Seiten des Heftes unterschiedlichen Erklärungsversuchen des Phänomens Faschismus: Seine Verbindungen zu Spießertum und bürgerlicher Normalität werden untersucht, die eigenen Strategien der antifaschistischen Arbeit reflektiert und die „allgegenwärtige und unausweichliche“ Medienausgesetztheit im Fernsehzeitalter als „postfaschistische Wunschkontrolle“ [2] konzeptualisiert. Auf der letzten Seite ist das Programm abgedruckt, das sich über vier Monate erstreckte und sich aus Filmvorstellungen, Lesungen und Diskussionen im Kunstverein, im Backstage Club und im Neuen Theater München zusammensetzte.

Diese Methode der Wissensproduktion, das Herstellen unerwarteter Konstellationen unter Anwendung der Sample-Technik, verbindet faschismusersatz mit einer Reihe anderer Projekte aus der Zeit. Sie kam dort zum Einsatz, wo mit künstlerischen Mitteln Diskurs produziert wurde und ist typisch für ebenjene Politisierung des Kunstfeldes der frühen 90er Jahre. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen an der Züricher Shedhalle oder die Zeitschrift A.N.Y.P., deren Anfänge eng mit dem Kunstverein München verknüpft sind und auf dessen Seiten nicht nur über Kunst, sondern in gleichem Maße über Geld, Gentechnologie und Sexismus diskutiert wurde. Auch das instrumentelle Verhältnis zwischen Projekt und Institution ist beispielhaft für den historischen Kontext. So tritt der Kunstverein hier nicht als Projektverantwortlicher hervor, sondern ist lediglich eine von mehreren Räumlichkeiten, in denen faschismusersatz stattfand. Die Organisator*innen nutzen die Öffentlichkeit und Infrastruktur des Kunstvereins für ihre Zwecke, ohne als offizieller Teil des Hauptprogramm von der Institution vereinnahmt zu werden – eine Beziehung, die die Kunstwissenschaftlerin Lucie Kolb mit den Worten von Fred Moten und Stefano Harney als „in ihr, aber nicht von ihr“ beschreibt.

In der Einleitung des faschismusersatz-Heftes positionieren sich die Initiator*innen innerhalb eines erinnerungspolitischen Diskurses, der vor dem Hintergrund der beunruhigenden Zunahme neonazistischer Aktivitäten in deutschen Städten, einem von den Autor*innen wahrgenommenen neuen gesamtdeutschen Nationalbewusstsein sowie dem Nachleben diverser Schlussstrichdebatten der 80er Jahre verhandelt wird. In diesem „Kampf um Begriffe und um Erinnerung“ [3] setzt sich die Position von faschismusersatz aus drei Koordinaten zusammen: Der Beschreibung und Ablehnung einer deutschen Identität, die aufgrund ihrer militärischen Macht sowie ihrer „Sehnsucht nach einem neuen nationalen Konsens, nach Sauberkeit, Ordnung und Schweigen“ [4] als Gefahr wahrgenommen wird, die Fokussierung auf faschistische Kontinuitäten in Deutschland nach 1945 und die Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust.

Auf die damit einhergehende Unvergleichbarkeit des nationalsozialistischen Genozids wird in dem kurzen Einleitungstext gleich an zwei Stellen eingegangen – eine Vehemenz, die der Historiker und Genozidforscher A. Dirk Moses als einen von fünf Punkten des „Katechismus der Deutschen“ beschreibt. Dieser, so Moses, setzte sich spätestens um die Jahrtausendwende als hegemoniale moralische Legitimierung der Bundesrepublik durch, als eine ganze Generation in Deutschland ihn als identitätsstiftendes Selbstverständnis verinnerlichte. [5] Nur durch ihn können – so die kirchliche Logik des Katechismus-Begriffs – die Deutschen Erlösung von der sündigen Vergangenheit erfahren. Deshalb ist der Holocaust in diesem Kontext ein „heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden darf, da dies seine sakrale Erlösungsfunktion beeinträchtigen würde.“ Er löste einen alten Katechismus ab, der vom konservativen Lager kommend den Holocaust als historisches Unglück deutete, dessen Verantwortung lediglich bei einer „kleine[n] Gruppe ideologischer Fanatiker“ zu suchen sei.

Moses‘ gesellschaftsstrukturelle Analyse bietet so Erklärungen für die energische Ablehnung der globalgeschichtlichen Forschungsansätze von Autor*innen wie Michael Rothberg oder Jürgen Zimmerer, die sich für ein multidirektionales Erinnern einsetzen und mit vergleichenden Perspektiven die kolonial-diskursiven Kontinuitäten des nationalsozialistischen Genozids ebenso wie seine singulären Elemente herausarbeiten. Den einzigen Hinweis auf ein multidirektionales Erinnerungsverständnis gibt im Veranstaltungsprogramm die Lesung des Autors Darius James aus seinem Buch Negrophobia (1992), das sich mit US-amerikanischem anti-schwarzem Rassismus auseinandersetzt. Im Innenteil des Heftes findet dieser Aspekt jedoch keine Erwähnung.

Der Aushandlungsprozess zwischen den zwei Katechismen artikuliert sich in faschismusersatz als früher Verfechter eines Umgangs mit der Nazi-Vergangenheit, der bis heute den deutschen Erinnerungsdiskurs dominiert. Zur gleichen Zeit, und auch das ist spürbar im faschismusersatz-Heft, begann sich in der radikalen Linken eine Extremform dieser Haltung zu bilden, die es so nur im deutschsprachigen Raum gibt: die sogenannten „Antideutschen“. Sie sahen in der Wiedervereinigung die Gefahr eines „IV. Reichs“, die in seiner letzten Konsequenz zu imperialistischer Aggression Deutschlands nach Außen und zum Vernichtungskrieg gegen fremde Ethnien im Inneren führe. faschismusersatz ist ein ambivalentes Kind dieses Kontextes: Während die oben charakterisierte Positionierung durchaus vereinbar ist mit einer antideutschen Haltung, distanzieren sich die Autor*innen in der Einleitung explizit von der „These vom Vierten Reich“[6] und verfolgen eine eher undogmatische Suche nach neuen Erklärungsmustern.

Dennoch, unter dem Slogan „Nie wieder Deutschland“ entwickelte sich in den kommenden Jahren in der radikalen Linken eine zutiefst germanozentrische Identität, die sich neben kompromissloser „Israel-Solidarität“, Islamfeindlichkeit und einem als Ideologiekritik getarnten Anti-Plebejismus vor allem durch einen essenzialisierenden Blick auf „die Deutschen“ und eine verführerische Fetischisierung des Bösen in ihnen auszeichnete. Die vielen Berührungen linksmilitanter und künstlerischer Kontexte in den 90er Jahren führten dazu, dass sich jene antideutschen Erklärungsreflexe bis heute auch in der deutschsprachigen Kunstwelt wiederfinden. So verwundert auch die Positionierung der Zeitschrift Texte zur Kunst mit ihrer Anti-Antisemitismus-Ausgabe von 2021 nicht, die unter dem Vorwand, den Antisemitismus in den eigenen (linken) Reihen zu thematisieren, – in Einklang mit dem entsprechenden sich auf deutsche Staatsraison berufenden Beschluss des deutschen Bundestags – vor allem die Boykott, Divestment and Sanctions Bewegung (BDS) zu diffamieren suchte.

faschismusersatz ist also vieles: Multidirektional in seiner Transdisziplinarität, eindimensional in seinem isolierenden Blick auf den Holocaust; Kontinuitäten nach 1945 zentrierend, Kontinuitäten vor 1933 – solche, die auf Funktionsäquivalenzen zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Praktiken weisen – nicht beachtend. In dem Jahr, in dem der Kunstverein München aufgrund seines 200-jährigen Jubiläums seine eigene Geschichte zum Programm macht und einen Großteil seiner Ressourcen darauf verwendet, sich erinnerungskulturell zu positionieren, soll die Auseinandersetzung mit diesem Beispiel vergangener Vergangenheitsumgänge also im besten Fall zu einem Vokabular beitragen, das die eigene historisch-kuratorische Praxis mitsamt ihrer unterbewussten Mechanismen und Konditionierungen reflektierbar – und kritisierbar – macht.

Ein Scan des faschismusersatz-Heftes kann hier heruntergeladen werden

Text: Jonas von Lenthe
Lektorat: Maurin Dietrich, Gloria Hasnay, Lea Vajda

Wenn Sie Fragen zum Martina Fuchs Archiv haben, wenden Sie sich bitte an Jonas von Lenthe über archiv@kunstverein-muenchen.de

Fußnoten

[1] faschismusersatz. film- und veranstaltungsprogramm. texte, filme, diskussionen zu faschismus, widerstand und postdemokratischen kontrollsystemen, München: Selbstverlag, 1993, S. 4.
[2] Ebd., S. 13.
[3] Ebd. S. 3.
[4] Ebd. S. 4.
[5] Weitere Glaubensartikel dieses neuen linksliberalen Katechismus sind, dass die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation bildet, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für die Juden in Deutschland und die Sicherheit Israels trägt, dass der Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen war und nicht mit Rassismus verwechselt werden darf und zuletzt, dass Antizionismus Antisemitismus ist.
[6] Ebd. S. 3.

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