Archiv Newsletter No. 10
Oktober 2022
Die letzten Archiv Newsletter wurden von dem ehemaligen Archivar des Kunstvereins Adrian Djukic verfasst. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Kunstverein München im kommenden Jahr beginnt mit dieser Ausgabe ein neues Format, das auch Gastbeiträge einschließt, die sich ausgehend von persönlichen Erlebnissen mit der Geschichte des Kunstvereins auseinandersetzen.
Schnappschüsse und Sichtachsen
von Saim Demicran
Während meines letzten Jahres als Kurator am Kunstverein München im Jahr 2015 lud ich den Künstler Stephan Dillemuth ein, Videomaterial zu zeigen, das er von Ausstellungen im Friesenwall 120 – dem von ihm in den frühen 1990er Jahren in Köln gegründeten Kunstraum – aufgenommen hatte. [1] Beim Betrachten des Materials, das eindeutig seine Handschrift trägt, kam mir der Gedanke, dass die Rolle der Subjektivität der Dokumentation in der Ausstellungsgeschichte möglicherweise übersehen worden ist. In meinen Recherchen habe ich seither nach Beispielen gesucht, in denen das Vorgehen eines/r Dokumentarist*in bei der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk oder einer Ausstellung deutlich wird. Und ich habe darüber nachgedacht, was verschiedene Blickwinkel über die künstlerische und kuratorische Praxis verraten.
Als ich mit diesen Gedanken im Archiv des Kunstvereins stöberte, stieß ich wie von selbst auf die Fotografien von Renate Kern, die von 1976 bis 2007 Leiterin der Geschäftsstelle des Kunstvereins war. Als der Archivraum 2020 eröffnet wurde, schenkte sie dem damaligen Archivar Adrian Djukic einige Farbabzüge von Fotos, die sie in den Jahren ihrer Tätigkeit dort gemacht hatte. Diese dokumentieren vor allem das soziale Umfeld des Kunstvereins, darunter Kunstreisen für Mitglieder, Feiern und Eröffnungen – Ereignisse, bei denen Kern anwesend war, oft inmitten des Publikums. Während professionelle Fotografien von Ausstellungen vor allem die offizielle (Ausstellungs-)Geschichte des Kunstvereins festhalten, dokumentieren Kerns Schnappschüsse eher die gelebte Erfahrung des Vereins. Ihre Perspektive auf den Kunstverein erlaubt es, darüber nachzudenken, wie und von wem die Geschichte einer Institution geprägt wird und welche eher „amateurhaften“ Formen der Dokumentation zur Kontextualisierung beitragen können.
Daher interessiert mich, wie Kerns Fotos mit den Archivmaterialien kontrastieren, die üblicherweise zur Historisierung von Ausstellungen verwendet werden. Diese Art von Abbildungen scheinen von einem singulären oder zyklopischen institutionellen Blick geleitet zu sein und sind oft wiederholt von dem/derselben Fotograf*in aufgenommen worden, was ebenfalls zu einer einseitigen Sicht auf die Geschichte beitragen kann. [2] In dieser Hinsicht sind Kerns Fotos eine Ergänzung zum zunehmend homogenisierten Feld der Ausstellungsdokumentation, das seinerseits von der Fotografie abhängig ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat die Entwicklung des Ausstellungs- als ästhetisch neutraler Raum die Kunst von ihrem Platz in einer sichtbar gleichzeitigen sozialen oder politischen Realität verdrängt und sie stattdessen, Brian O’Doherty zufolge, in einer „Ewigkeit des Ausstellens“ verortet. Diese Zeitlosigkeit (des Raums), so könnte man sagen, spiegelt sich in der Dokumentation der Kunst wider, die O’Doherty als „Metapher für den Ausstellungsraum“ bezeichnet. [3] Diese ahistorischen Mechanismen haben auch dazu geführt, dass in den offiziellen Formen der Ausstellungsdokumentation jegliche Hinweise auf Betrachter*innen eliminiert wurden. Andererseits gibt die Anwesenheit von Personen in Kerns Fotos dem Kunstverein einen zeitlichen Rahmen und trägt dazu bei, die Geschichte seines Programms zu erzählen, das von bestimmten Figuren geprägt wurde, die auf diesen Fotos gemeinsam zu sehen sind. So zeigen mehrere Aufnahmen den Wechsel der Direktoren des Kunstvereins zwischen Zdenek Felix, Helmut Draxler und Dirk Snauwaert, die zwischen 1986 und 2001 nacheinander den Kunstverein München leiteten – in einer Zeit, in der sich die Ausrichtung der Institution stark veränderte.
Vor allem Draxlers Zeit als Direktor, der 1992 auf Felix folgte, stellte eine Verlagerung hin zu theoretischen und diskursiven Kunstformen dar, zu einer Zeit, als Künstlerinnen zum Beispiel begannen, die Ausstellung selbst als Medium zu begreifen. Während seiner Amtszeit machte Draxler den Kunstverein zu einem herausragenden Ort für Künstlerinnen, die mit dem in Verbindung standen, was Karen Archey kürzlich als zweite Welle der Institutionskritik in den 1990er Jahren bezeichnete, und von denen viele aus Amerika kamen. [4] Solche Praktiken waren in Deutschland bereits unter der Federführung des Galeristen Christian Nagel in Köln angekommen, der Künstler*innen wie Andrea Fraser und Renée Green zum ersten Mal außerhalb der USA ausstellte. [5] Kerns Fotos zeigen Felix, Draxler und Snauwaert in den Räumlichkeiten des Kunstvereins – oft sind sie zu sehen, wie sie inmitten von oder vor Menschen Reden halten –, wodurch die Rolle des Direktors als Geschichtenerzähler dieser Institution verbildlicht wird. Während eine professionelle*r Fotograf*in den Blick auf ein Kunstwerk entlang der üblichen Sichtachsen in einer Ausstellung lenkt, hatte Kern ein Gespür dafür, Einblicke in die Beziehungen zwischen Menschen in denselben Räumlichkeiten einzufangen. Auf einem Schnappschuss der Eröffnung der Ausstellung Präambel und Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Artikel 1-19 (Diskurs 2) Ein Kommentar von Thomas Locher im Jahr 1995 ist beispielsweise Draxlers Kopf Snauwaert zugewandt, der im folgenden Jahr Direktor werden sollte – ein Moment, der vielleicht symbolisch für eine Stabübergabe steht.
Viele von Kerns Fotos sind aus der Position eines/r Besucher*in einer Ausstellungseröffnung oder einer Veranstaltung aufgenommen. Oft erscheinen die Schulter oder die applaudierenden Hände einer Person am Rand des Bildes. Diese zufälligen Details verweisen auf den Kunstverein als eine Organisation, in der das Soziale ein integraler Bestandteil der Struktur ist – schließlich steht ein Verein für eine Gesellschaft. Eines ihrer späteren Fotos (vermutlich nach ihrer Pensionierung aufgenommen) zeigt Bart van der Heide, der im Eingangsbereich des Kunstvereins eine Rede hält. [6] Auf diesem Bild wird er von etwas gerahmt, das als Symbol für soziale Formen des Mäzenat*innentums gelesen werden kann: eine Frau in einem schimmernden Cocktailkleid, eine Flasche Champagner und ein zustimmender Blick von Florian Seidl, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden. Aus Kerns Position als Mitarbeiterin und Mitglied des Kunstvereins heraus betrachtet, bietet die zwischenmenschliche Qualität ihrer Bilder eine zusätzliche Ebene der Kontextualisierung des Milieus, in dem sich das Geschehen abspielt. Wenn ich dieses Foto betrachte, werde ich an die Art und Weise erinnert, wie die Künstlerin Louise Lawler das Kunstobjekt in ihrem fotografischen Werk verlagert, um die Umgebung zu zeigen, in der Kunst in den Wohnungen von Sammler*innen, Restaurants und Büros auftaucht. Selbst in ihren Fotografien von Kunstwerken in Museen und Galerien nimmt sie absichtlich Dinge auf, die normalerweise nicht im Bild sind oder entfernt werden, wie etwa Etiketten, Wandbefestigungen oder andere Kunstwerke. O’Doherty schreibt: „In einer Fotografie ist die Position des Randes eine wichtige Entscheidung, da sie das, was sie umgibt, zusammensetzt – oder zersetzt“. [7] Was an diesen Rändern erscheint, verweist auf den Kontext der Präsentation, und wenn es sich bei diesem Kontext um eine Ausstellung handelt, offenbart es die Beteiligung dieser an einem größeren Präsentationssystem.
Das vielleicht Auffälligste an Kerns Fotos ist jedoch die Tatsache, dass die Ausstellungen, bei denen die Aufnahmen entstanden sind, fast immer nicht zu erkennen sind. Auf vielen sind die eigentlichen Kunstwerke entweder nicht oder nur im Hintergrund zu sehen. Die soziale Dynamik, die in den Fotos zum Tragen kommt, erinnert vielmehr an Hans Haackes Fotonotizen, documenta 2, die er als Kunststudent in Kassel während der documenta im Jahr 1959 aufnahm. In dieser Zeit fotografierte Haacke die Ausstellung und konzentrierte sich auf die Menschen und nicht auf die ausgestellte Kunst. Als er die vielen Gespräche zwischen Kunsthändler*innen, Sammler*innen, Pressevertreterinnen und den Organisator*innen der Ausstellung verfolgte, erkannte der Künstler, dass die Ausstellung selbst als Kulisse für ein kollektives Vermittlungssystem diente. „Fotografien liefern Beweise“, schreibt Susan Sontag, und Haacke wurde schon früh in seiner künstlerischen Laufbahn Zeuge von Machenschaften in der Kunstwelt – sozioökonomischen Verstrickungen, die zum Hauptgegenstand seiner gesamten Praxis werden sollten. [8] Zufälligerweise hat Wilhelm Schürmann – ein Fotograf und Sammler, der selbst oft Ausstellungen dokumentierte – die Fotos gemacht, die Haacke in seinem umstrittenen Werk Der Pralinenmeister von 1981 verwendete. [9] Schürmanns Fotografien sowie seine Kunstsammlung waren 1998 Gegenstand der Ausstellung Someone else with my fingerprints im Kunstverein.
Kerns Fotos offenbaren die Struktur des Kunstvereins auch durch die abgebildeten Personen. Während Ausstellungen kommen und gehen, bleibt die bürgerliche Gesellschaft Münchens eine Konstante innerhalb der traditionell mitgliederbasierten Organisation. Entscheidend für die Struktur des Vereins sind die Vorstandsmitglieder, die sich häufig aus der Oberschicht und Sammler*innen zusammensetzen, für die die Unterstützung des Kunstvereins ein gewisses Prestige innerhalb der lokalen Kunstszene bedeutet. Im Rahmen von Draxlers Programm wurde der soziale Status des Vorstands 1993 von Andrea Fraser in ihrer Ausstellung Eine Gesellschaft des Geschmacks psychologisch dekonstruiert und dramatisiert. Kern machte bei der Eröffnung mehrere Fotos. In der Mitte einer dieser Aufnahmen ist der ehemalige Schatzmeister, Mäzen und Anwalt des Kunstvereins Bernd Mittelsten-Scheid zu sehen, der sich mit Draxler unterhält, während Fraser am Rand des Bildes auftaucht. Kerns Schnappschuss bringt das Thema der Ausstellung perfekt zum Ausdruck, da er sich auf das Zusammenspiel zwischen dem Direktor und einem Vorstandsmitglied konzentriert, während die Künstlerin als Beobachterin im Hintergrund erscheint.
Der eigentliche Grund meines Interesses an Kerns Fotografien liegt im Zufälligen. In Notes on Photography & Accident erläutert die Künstlerin Moyra Davey anhand der Schriften von Walter Benjamin, Susan Sontag und Janet Malcolm „die Idee, dass der Zufall das Herzstück der Fotografie ist.“ Davey schreibt weiter: „Für Sontag und Malcolm ist der Zufall die Vitalität des Schnappschusses.“ [10] Kerns Fotos erwecken die Geschichte des Kunstvereins durch den zufälligen Charakter des Schnappschusses zum Leben – Kompositionen, die die inszenierte Fotografie nur selten einfängt. Während die offizielle Dokumentation die Kunstwerke in Ausstellungen in oder außerhalb der Zeit erstarren lässt, fügt die Darstellung von Personen, die den Kunstverein umgeben, unterstützen und konstituieren, in diesen Abbildungen den historischen Aufzeichnungen einer Institution eine normalerweise unsichtbare Vitalität hinzu. Ihre Darstellung, wie auch die des/r Dokumentarist*in, finden nun ihren festen Platz auf der Zeitachse des Kunstvereins.
-
Saim Demicran ist Kurator, Autor und Doktorand an der Kingston School of Art. Zwischen 2012 und 2015 war er Kurator am Kunstverein München.
Lektorat und Übersetzung: Gloria Hasnay, Marie Schütz.
Danke für wertvolle Hinweise an Adrian Djukic, Helmut Draxler, Jonas von Lenthe, Renate Kern, Johanna Klingler und Laura McLean-Ferris.
Wenn Sie Fragen zum Martina Fuchs Archiv haben, wenden Sie sich bitte an Johanna Klingler und Jonas von Lenthe über archiv@kunstverein-muenchen.de
-
Fußnoten
[1] Es folgte ein Interview in frieze d/e, Ausgabe 21, das auf der Webseite von frieze oder auf societyofcontrol.com zu finden ist.
[2] Wilfried Petzi dokumentierte ab den frühen 1990ern über zwanzig Jahre hinweg einen Großteil der Ausstellungen des Kunstverein München.
[3] Brian O’Doherty, Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space, Berkely: University of California Press, 1999, S. 15.
[4] Vgl. Karen Archey, After Institutions, Berlin: Floating Opera Press, 2022.
[5] Nagel selbst stammt aus München und hatte dort seine erste Galerie eröffnet, bevor er 1990 nach Köln umzog, damals das künstlerische Zentrum Westdeutschlands in einem Land an der Schwelle zur Wiedervereinigung.
[6] Bart van der Heide war von 2010 bis 2015 Direktor des Kunstverein München.
[7] O’Doherty 1999, Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space, S. 19.
[8] Susan Sontag, On Photography, London: Penguin Books, 2019, S. 3.
[9] Wilhelm Schürmann, „A Collector as Photographer“, in: Stephen Prina, We Represent Ourselves To The World, Los Angeles: UCLA / Armand Hammer Museum of Art and Cultural Center, 2004, S. 218.
[10] Moyra Davey, Index Cards, New York: New Directions Publishing, 2020, S. 43.
Abbildungsverzeichnis:
[1] Ausstellungseröffnung von Barbara Bloom - Signate, Signa, Temere Me Tangis Et Angis im Kunstverein München, 1990. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern.
[2] Bart van der Heide im Kunstverein München, Jahr unbekannt. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern
[3] Ausstellungseröffnung von Andrea Fraser - Eine Gesellschaft des Geschmacks im Kunstverein München, 1993. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern.
[4] Ausstellungseröffnung von Thomas Locher - Präambel und Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Artikel 1-19 (Diskurs 2) Ein Kommentar im Kunstverein München, 1995. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern.
[5] Ausstellungseröffnung von Michael Croissant - Skulpturen und Zeichnungen im Kunstverein München, 1991. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern.
[6] Ausstellungseröffnung von Andrea Fraser - Eine Gesellschaft des Geschmacks im Kunstverein München, 1993. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Renate Kern.

1

2

3

4

5

6