Januar 2024
Paul Kolling
Nadir
27. Januar – 21. April 2024 / January 27 – April 21, 2024
Eröffnung: Freitag, 26. Januar, 19–22 Uhr /
Opening: Friday, January 26, 7–10pm
DE
In seiner Praxis beschäftigt sich Paul Kolling mit aktuellen Fragen zu Ökonomie, Ökologie und der Entwicklung komplexer Infrastrukturen der letzten zwei Jahrhunderte. Für seine Einzelausstellung Nadir hat Kolling eine neue Arbeit konzipiert, die sich mit der Geschichte der Luftbildaufnahmen und der Hansa Luftbild GmbH auseinandersetzt. Die Entwicklung der sogenannten Aerophotogrammetrie vor etwas über hundert Jahren führte zu einem Blickwechsel von der Horizontalen in die Vertikale und erforderte eine gänzlich neue Form des „Lesens“ von Bildern. Kolling zeichnet diese neue bzw. verschobene Perspektive auf die Umwelt und die daraus resultierende veränderte Raum- sowie Selbstwahrnehmung nach.
Durch die Nutzung von technischen Systemen und selbst geschriebenem Code schafft Kolling Installationen, Skulpturen und Videos, die sich zwischen dem analogen und dem digitalen Raum bewegen. Seine recherchebasierten Arbeiten verkomplizieren konventionelle Vorstellungen des Protokollierens und Klassifizierens von Raum und konfrontieren die Betrachter*innen mit dem Akt des Beobachtens als einem von Interessen geleiteten Vorgang. Als Ausgangspunkt für die Münchner Ausstellung dienen die Luftbild-Lesebücher, die ab den 1920ern von der Hansa Luftbild veröffentlicht wurden. Sie beinhalten Anleitungs- und Übungsbilder sowie topologische Analysen und geben einer zunächst rein militärisch begründeten Entwicklung einen sozio-ideologischen Rahmen. Seit dem Ersten Weltkrieg sind Luftbildaufnahmen ein Schlüsselmerkmal sowohl der militärischen Aufklärung als auch der zivilen Luftbildmessung. Durch die zweidimensionale und gerasterte Visualisierung eines Gebiets wurde das Wissen über die Erdoberfläche zunehmend zu einem systematischen Wissen über das darunter Verborgene – von archäologischen Artefakten und natürlichen Rohstoffen bis hin zu in Wäldern versteckten Truppen. Entsprechend spielte die Fotografie eine zentrale Rolle bei der technischen Konstitution des militärischen Blicks sowie der Zuordnung von Landes- und Eigentumsgrenzen.
In seiner neuen, zur Ausstellung gleichnamigen Arbeit verhandelt Kolling diese komplexen sozio-politischen wie ökonomischen Beziehungen. Die Filmprojektion zeigt die grobe Rekonstruktion eines Fluges der Hansa Luftbild auf Basis von Bildern aus den Lesebüchern. Die Arbeit wird mit einem modifizierten Projektor vorgeführt und ist in eine raumgreifende Intervention eingebettet, die die Proportionen der Ausstellungsräume verengt. In Nadir befasst sich Kolling mit der (Un-)Möglichkeit, die Welt zu dokumentieren: Bilder der eigentlichen Orte erfahren eine sie reduzierende Abstraktion, die notwendig ist, um die Komplexität der Welt auf einer zweidimensionalen Aufnahme abzubilden. Diese in der fotografischen Methode auftauchende Lücke steht im Zentrum der Ausstellung. Die Lesbarkeit – im Englischen der deutlich prägnantere Begriff der „literacy“ – solcher Aufnahmen prägt bis heute unser (Ab-)Bild der Welt.
EN
In his works, Paul Kolling deals with current issues of economy, ecology, and the development of complex infrastructures over the past two centuries. For his solo exhibition Nadir, Kolling has conceived a new work that examines the history of aerial photography and the Hansa Luftbild GmbH. The development of so-called aerophotogrammetry a little over a hundred years ago led to a change in perspective from the horizontal to the vertical and required a completely new way of “reading” images. The artist traces this new or rather shifted perspective on the environment and the resulting change in the perception of space and of the self.
By using technical systems and self-written code, Kolling creates installations, sculptures, and videos that move between analog and digital space. His research-based works complicate conventional notions of recording and classifying space, confronting the viewer with the act of observing as a process governed by interests. For the Munich exhibition, the so-called “Luftbild-Lesebücher” (aerial photo readers), published by the Hansa Luftbild from the 1920s onwards, serve as a point of departure. They contain instructional and educational images as well as topological analyses, providing a socio-ideological framework for a development that was initially motivated purely by military objectives. Since the First World War, aerial photographs have been a key element of both military reconnaissance and civilian aerial surveying. Through the two-dimensional and rasterized visualization of territory, knowledge of the earth’s surface increasingly became systematic knowledge of what was hidden beneath—from archaeological artifacts and natural resources to troops hidden in forests. Accordingly, photography played a central role in the technical constitution of the military gaze as well as the allocation of national and property boundaries.
In his new work of the same name as the exhibition, Kolling exposes these complex socio-political and economic relationships. The film projection shows an approximate reconstruction of a flight route by the Hansa Luftbild and is screened using a modified projector and embedded in an expansive intervention that constricts the proportions of the exhibition spaces. In Nadir, Kolling addresses the (im)possibility of documenting the world: views of the actual places are subjected to a reductive abstraction in order to depict the complexity of the world in a two-dimensional image. This loophole built into the photographic method is at the center of the Munich exhibition. The ability to read or, more precisely, the “literacy” of such images still shapes our view of/on the world today.
Schaufenster am Hofgarten & online
Sadie Benning
It Wasn’t Love
19. Januar – 10. März 2024 / January 19 – March 10, 2024
DE
Schaufenster ist eine Onsite- und Online-Serie, die gleichzeitig Werke in den beiden permanent zugänglichen Räumen der Institution – dem Schaufenster am Hofgarten und der Webseite – präsentiert. Die Reihe lief erstmals von 2019 bis 2021 und wird diesen Januar mit einem Jahresprogramm fortgesetzt, das sich mit den Bedingungen der künstlerischen Produktion und dem geschlechtsspezifischen Selbst befasst.
Die Reihe wird fortgeführt mit Sadie Benning. In ihren Videoarbeiten aus den frühen 1990er Jahren sind extreme Nahaufnahmen von Bennings Gesichts zu sehen, während sie in eine Pixelvision-Kamera sprechen. Ihre Ausführungen und Reflexionen zu unterschiedlichen Themen wie den Herausforderungen des Erwachsenwerdens, sexueller Identität und erotischem Spiel sind in Montagen aus Fotos, Heimvideos, Fernseh- und Filmausschnitten sowie Text eingebettet.
Bennings gezeigte Videoarbeit It Wasn’t Love (1992) schildert eine lustvolle Begegnung mit einem „Bad Girl“ anhand von geschlechtsspezifischen Darstellungen und dem Zusammenspiel unterschiedlicher Genres von Hollywood-Stereotypen: Sie posieren für die Kamera als Rebell*in, Platinblondine, Gangster*in, Schlagerstar der 1950er Jahre oder heißblütiger Vamp. Bennings Arbeit verkompliziert und destabilisiert binäre Geschlechterordnungen. Dabei geht das Werk über romantische Fantasien hinaus und beschreibt andere Facetten der körperlichen Anziehung wie Angst, Gewalt, Lust, Schuld und totale Erregung. Wie Benning es formuliert haben: „Es war keine Liebe, aber es war etwas...“. Es war eine Chance, sich glamourös, sexy und berühmt zu fühlen – und das alles zur gleichen Zeit.
EN
The onsite and online series Schaufenster simultaneously presents video works in the two permanently accessible spaces of the institution—the window display facing the Hofgarten as well as the website. The series initially ran from 2019 through 2021 and resumes this January with a year-long program presenting works that explore the conditions of artistic production and the gendered self.
The series recommences with artist Sadie Benning. In their video works from the early 1990s, extreme close-ups of their face appear as they speak into a Pixelvision camera. Benning’s narrations and reflections of a range of subjects such as the challenges of adulting, sexual identity, and erotic play are placed within montages of photos, home videos, television and film snippets, and text.
Benning’s video on view, It Wasn’t Love (1992), illustrates a lustful encounter with a “bad girl” through the gender posturing and genre interplay of Hollywood stereotypes: posing for the camera as the rebel, the platinum blonde, the gangster, the 1950s crooner, or the heavy-lidded vamp. Benning’s work complicates and destabilizes binary systems of gender. It goes farther than romantic fantasy, describing other facets of physical attraction including fear, violence, lust, guilt, and total excitement. As they have put it, “It wasn’t love, but it was something....” It was a chance to feel glamorous, sexy, and famous—all at the same time.